Mein Konto
    Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben
    Von Thilo Podann

    Jeder Mensch hat seine Marotten, Spleens und Eigenheiten. Wenn diese außergewöhnlichen Verhaltensweisen jedoch zum Zwang werden, spricht man von einer psychischen Krankheit.  In Deutschland leben schätzungsweise zwischen 1 und 2 Millionen Menschen mit sogenannten Zwangserkrankungen. Einer davon ist Oliver Sechting. Der homosexuelle Filmemacher (und Lebensgefährte der Regielegende Rosa von Praunheim) wollte gemeinsam mit seinem Freund Max Taubert eigentlich eine Dokumentation über die Künstlerszene in New York drehen. Was am Ende dabei herauskam, ist dann aber ein sehr intimes Porträt über Oliver und seine Erkrankung: „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“.

    Oliver Sechting und Max Taubert fliegen in die USA, um in der Mega-Metropole New York für ihr erstes eigenes Filmprojekt einige Künstler zu interviewen. Doch schnell wird klar, dass der Plan der beiden unerfahrenen Filmemacher nicht so aufgeht wie erhofft, denn Oliver leidet an „magischen Zwangsgedanken“, die nicht nur den Dreh, sondern auch die Freundschaft der beiden belasten. Schließlich wird aus den Spannungen und Problemen hinter der Kamera das eigentliche Thema des Films und der Fokus richtet sich mehr zufällig als gewollt auf Olivers neurotische Krankheit. Wenn Sechting Zahlen wahrnimmt, dann führt das in seinem Kopf zu zwanghaften Gedankenfolgen, die seinen Alltag und seine Arbeit überschatten.

    Die 58 ist eine böse Zahl. In der Kombination mit einer 6 oder einer 9 kann sie sogar tödlich sein und muss so schnell wie möglich neutralisiert werden. Am besten mit einer 7 oder einer 100: So in etwa muss man sich vorstellen, was in Oliver Sechtings Kopf vorgeht, wenn er auf Zahlen aufmerksam wird, die wir Gesunden als völlig trivial betrachten (etwa auf einem Verkehrsschild). Diese magischen Zwangsgedanken stellen auch die Mitmenschen des jungen Kreativkopf oft auf eine harte Probe. Selbst seinem fröhlichen und dauerlächelnden Begleiter Max Taubert, der ihn und die Krankheit gut kennt, reißt in der Enge ihres kleinen Apartments in New York irgendwann der Geduldsfaden.

    Der numerische Wahnsinn gipfelt in einer skurrilen „Gute-Nacht-Szene“, in der die beiden Filmemacher schier endlos ausdiskutieren, wer dem anderen zuletzt eine gute Nacht wünscht. Nachdem dies endlich geklärt zu sein scheint, kehrt Sechting noch einmal ins Zimmer seines Kollegen zurück und bemängelt die Anzahl der „Gute Nachts“, bevor er ein weiteres Mal die Abschiedsformel aufsagt und die böse Zahl somit neutralisiert. Hier wird die ganze zermürbende Zwanghaftigkeit der Krankheit deutlich und die Kamera ist ganz nah dabei und mittendrin. Egal ob bei der angeheiterten Rückkehr nach einer exzessiven Party oder den traumatischen Erinnerungen an den Tod des Vaters: Immer wird schonungslos draufgehalten, wobei die beiden Protagonisten (sich) selbst filmen.

    In der sich verselbständigenden Krankheitsdoku gibt es gleichzeitig auch noch Spuren des ursprünglich geplanten Projekts, denn einige Interwies mit Größen der New Yorker Künstlerszene wurden tatsächlich durchgeführt und haben es in den fertigen Film geschafft. Die Wechsel von der klaustrophobischen Enge des Apartments zu diesen Gesprächen sowie zu den gelegentlich eingestreuten atemberaubenden Aufnahmen des Big Apple wirken bisweilen genauso zerfahren wie die gedanklichen Rechenspiele von Regisseur und Protagonist Sechting, was dem Film eine zur Entstehungsgeschichte passende Unruhe verleiht. „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“ ist kein Werk aus einem Guss, sondern das lebendige Zeugnis eines ungewöhnlichen Geisteszustands.

    Fazit: Eine intime Dokumentation über die faszinierende und verstörende Welt der magischen Zwangsgedanken.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top