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    Wo ich wohne - Ein Film für Ilse Aichinger
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Wo ich wohne - Ein Film für Ilse Aichinger
    Von Andreas Günther

    Zum Lesen anregen? Dem Publikum den Menschen hinter den Büchern näherbringen? Die Entstehung der Werke nachzeichnen und diese vielleicht erklären? Schriftstellerporträts, nicht nur solche fürs Kino, können vieles sein. Durchaus einiges von dem Genannten findet sich in „Wo ich wohne – ein Film für Ilse Aichinger“. Aber Autorin und Regisseurin Christine Nagel hat mit ihrem Dokumentarfilm mit Spielszenen über die bedeutende Autorin Aichinger Komplexeres im Sinn: Sie will das seltsame Verhältnis der österreichischen Schriftstellerin zur Welt einfangen, das sich in deren vielfach geäußertem Wunsch bekundet, einfach verschwinden zu können. Das ist ein faszinierender Ansatz, aber die schwierige Aufgabe kann die Filmemacherin nicht vollständig erfüllen und so bleibt letztlich einiges an ihrem Werk für literarisch uneingeweihte Zuschauer mysteriös.

    Als roter Faden dient der Regisseurin eine in Schwarz-Weiß gedrehte und im heutigen Wien angesiedelte Quasi-Verfilmung von Aichingers 1952 publizierter Erzählung „Wo ich wohne“: Eine junge Frau (Verena Lercher) stellt fest, dass sich ihre Wohnung Stockwerk um Stockwerk immer weiter absenkt. Die Nachbarn scheinen nichts zu bemerken. Die junge Frau schämt sich, auf die bizarre Veränderung aufmerksam zu machen. Schließlich wohnt sie auf Kellerniveau mit vergittertem Fenster. Zwischen den einzelnen Szenen dieses Erzählstrangs erkundet Christine Nagel das Wien Ilse Aichingers (Kamera: Helmut Wimmer) und das London der Zwillingsschwester Helga (gefilmt von Isabel Cassez, die auch die Spielszenen aufgenommen hat). Dabei wird in beiden Fällen viel von der NS-Zeit erzählt, die Helga in England überlebte und  Ilse wie durch ein Wunder in Wien.

    Die inzwischen über 90-jährige Ilse Aichinger ist in „Wo ich wohne“ nur zu hören. Ihre Stimme erklingt in aktuellen Interviews und Lesungen aus dem Off, zu sehen bekommen wir sie nur in alten Fernsehaufnahmen. Ihre Existenz loszuwerden, sei stets ihr Ehrgeiz gewesen, sagt die alte Dame mit brüchiger und doch immer noch sonorer Stimme. In gewisser Weise ist die Filmemacherin ihre Komplizin bei diesem Vorhaben und es wird wirklich der Titel eingelöst, der besagt, dass dies eben kein Film „über“, sondern einer „für“ Ilse Aichinger sein soll: Sie darf verschwinden, ohne verstummen zu müssen. Nagel spielt durch den (weitgehenden) Verzicht auf die physische Präsenz der Autorin gleichsam durch, wie eine Welt ohne Ilse Aichinger aussieht, in der die Worte der Autorin aber mit Macht fortleben. Da verfährt sie ähnlich wie Aichinger selbst in den alten Super-8-Filmen, die sie von ihrem Familienleben mit Ehemann Günter Eich und den gemeinsamen Kindern und von einigen Ecken Wiens angefertigt hat.

    Also ist der Film eine Art Geschenk für Ilse Aichinger? Ja und nein. Ihr Wunsch nach dem Verschwinden wird auf künstlerische Weise erfüllt. Aber Film ist Massenkunst und nie für nur einen Menschen gemacht. Ilse Aichinger, die früher die Gewohnheit hatte, drei Mal am Tag ins Kino zu gehen, weiß das sehr gut. In ihren Zeitungskolumnen und nicht zuletzt in ihrem Buch „Film und Verhängnis“ nimmt sie Werke wie „Der dritte Mann“, in dem ihre Zwillingsschwester Helga eine kleine Rolle hat, zwar zum Ausgangspunkt für Autobiografisches, aber dabei stellt sie doch klar, dass ein Film für alle da ist. Dieser Aspekt wird im Fall von „Wo ich wohne – ein Film für Ilse Aichinger“ in gewissem Maße ignoriert, denn der Zuschauer erhält kaum Eckdaten aus dem Leben der 1921 geborenen Schwestern Ilse und Helga, geschweige denn über Ilses literarische Karriere.

    So muss man für diesen Film idealerweise einiges an Vorwissen mitbringen, zumal der Betrachter auch mit der Deutung des Wunsches zu verschwinden alleingelassen wird. Was steckt dahinter? Wann ist er entstanden? Während der nationalsozialistischen Verfolgung, auf die, wie die Forschung sagt, auch die Erzählung „Wo ich wohne“ anspielen soll? Oder bereits in früher Kindheit, als Ilse Aichinger stark verunsichert war über ihre Zwillingsschwester, die ihr äußerlich und vom Klang der Stimme her so glich? Regisseurin Nagel geht diesen Fragen nicht wirklich nach, wer mehr „über“ Ilse Aichinger wissen möchte, der muss Antwort bei der eigenen Lektüre ihrer Bücher suchen. Positiv ausgedrückt lädt der Film zum Lesen ein und macht auch den Nicht-Spezialisten neugierig auf das Schaffen einer überaus faszinierenden Künstlerin.

    Fazit: Auf einleuchtende Weise wird in diesem Film eine geheimnisvolle Sehnsucht der Autorin Ilse Aichinger in die Tat umgesetzt, vielleicht aber auch allzu konsequent – etwas mehr Publikumsorientierung hätte zumindest nicht schaden können.

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