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    Das Haus am Meer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Das Haus am Meer

    Die ganze Welt in einer kleinen Bucht

    Von Sascha Westphal

    Wie lässt sich von unserer zerrissenen, von so viel Hass erfüllten Gegenwart erzählen, wie von einer Welt, die nicht wenigen immer kälter und unwirtlicher erscheint? Heute läge es, zumindest für einen französischen Filmemacher, nahe, sich den „Gelbwesten“ zuzuwenden und über die Proteste zu sprechen, die Frankreich seit Monaten in Aufruhr versetzen. Das wäre dann wahrscheinlich ein Film voller Lärm und Wut, ein bitteres Dokument des Zerfalls der westlichen Gesellschaften und des Niedergangs der repräsentativen Demokratie. Vor gut zwei Jahren, als Robert Guédiguians wunderbar entspanntes Familiendrama „Das Haus am Meer“ entstanden ist, sah die Welt in Frankreich allerdings noch etwas freundlicher aus. Die Risse zwischen der Provinz und den Metropolen waren natürlich auch da schon ebenso sichtbar wie die zwischen der mittlerweile alt gewordenen Generation der sozialistischen Linken und ihren im weitesten Sinne neoliberal denkenden Kindern. Doch sie hatten noch nicht die Grundfesten der Gesellschaft erreicht. Gespräche und vielleicht sogar ein Ausgleich schienen weiterhin möglich zu sein. So erzählt Guédiguian ganz ohne Wut von den Kompromissen, die seine Figuren eingegangen sind, von ihrem Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen, und von der Hoffnung, die mit den über das Mittelmeer Flüchtenden nach Europa kommt.

    Nachdem ihr Vater einen Schlaganfall hatte, kehren die Schauspielerin Angèle (Ariane Ascaride) und ihr älterer Bruder, der Gewerkschafter Joseph (Jean-Pierre Darroussin), in die Méjean calanque Bucht, ganz in der Nähe von Marseille, zurück. Anders als ihr Bruder Armand (Gérard Meylan), der das kleine Restaurant des Vaters in dessen Sinne weiter betreibt, haben sie es in der Enge der Bucht, die auch die Enge des sozialistischen Traums ihres Vaters und seiner Generation ist, nicht ausgehalten. Sie mussten raus, in die Welt, nach Paris. Dort hatten sie beide großen Erfolg. Angèle ist berühmt geworden und Joseph bis ins Management eines großen Konzerns aufgestiegen. Aber von den einstigen Träumen ist kaum etwas übriggeblieben. Im Haus des Vaters werden sie mit einer Welt konfrontiert, die sie schon verloren glaubten. Aber auch wenn Investoren und Spekulanten einen großen Teil der Häuser in der Bucht aufgekauft haben, erweist sich die dörfliche Gemeinschaft für die drei Geschwister als Ort des Widerstands. Als sie auf drei kleine Kinder, ein Mädchen und ihre zwei Brüder, stoßen, die den Untergang eines Flüchtlingsboots knapp vor der Küste überlebt haben, besinnen sie sich noch einmal auf ihre früheren Ideale und Hoffnungen…

    In seinen Notizen zu „Das Haus am Meer“ beschreibt Robert Guédigiuan („Der Schnee am Kilimandscharo“) die Méjean calanque Bucht als eine „Open-Air-Bühne“: „Die bunten kleinen Häuser in den Hügel gebaut scheinen nicht mehr als Fassaden zu sein...“ Dieser Gedanke schwingt in jeder Einstellung des Films mit. Die Geschichte von Angèle, Armand und Joseph gleicht einem kleinen Welttheater. Die Bucht als Bühne für die großen gesellschaftlichen und privaten Dramen. Oder wie es in William Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt“ heißt: „Die ganz Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler / Sie treten auf und gehen wieder ab.“ Etwas Spielerisches haben Guédiguians Figuren auf jeden Fall. Sie betreten die Bühnen-Bucht mit einer Leichtigkeit, die selbst den traurigen und tragischen Momenten des Films etwas Schwebendes verleiht. Ein Schatten liegt von Anfang an über Ariane Ascarides Angèle. Sie hat ihre kleine Tochter an das Meer verloren und wollte niemals mehr ins Haus des Vaters zurückkehren. Die Wunde ist noch offen, als sie in Méjean calanque aus dem Taxi steigt. Später wird sie erkennen, dass sie in der Fremde nicht heilen konnte, und sich der Vergangenheit und mit ihr auch der Zukunft öffnen. Bloß mitzuerleben, wie Ariane Ascaride sich freier und freier bewegt, wie ihre Darstellung immer verspielter wird, übt einen unwiderstehlichen Zauber aus, der einen in Guédigiuans Welt zieht.

    Wie Ken Loach („Ich, Daniel Blake“) und die Dardenne-Brüder („Zwei Tage, eine Nacht“) ist auch Robert Guédiguian ein Filmemacher, der noch an die Macht des Kinos und seiner Bilder glaubt. Seine Filme stehen in der Tradition einer linken Politik, die ihre Wurzeln in der - wie es einmal hieß - Arbeiterklasse hat. Aber anders als Loach, der die Kunst auch heute noch als Mittel der Agitation versteht, geht er einen anderen, auf den ersten Blick fast schon unpolitisch erscheinenden Weg. In „Das Haus am Meer“ haben die alten Ideologien ihren Reiz verloren. Sie können mit den materiellen Glücksversprechen des Kapitalismus einfach nicht mithalten. Deswegen haben die Kinder der einstigen Bewohner der Bucht die Wohnungen und Häuser ihrer Eltern verkauft und machen nun woanders Karriere. Es ist wie ein erfolgreicher Arzt und Forscher sagt: Warum sollte er Frankreich mit seiner Firma nicht verlassen. Schließlich sind die Sozialabgaben in London niedriger und die Gewinnspannen höher. Guédiguian wirft ihm diese Haltung nicht vor. Er verteufelt diesen modernen Wissenschaftler und Unternehmer nicht, der seine armen Eltern unterstützen wollte und nicht verstanden hat, dass Würde eben kein Preisschild hat.

    So ist die heutige Welt nun einmal, scheint Guédiguian zu sagen. Und das einzige, das er dem Neoliberalismus und der Entsolidarisierung entgegensetzen kann, ist die Kunst an sich. In ihr lebt ein anderes Bild vom Menschen weiter, das einen ebenso wie die Gier infizieren kann. Und so hat er eine Gegenfigur zu dem keineswegs unsympathischen Arzt geschaffen: den etwa gleichaltrigen Fischer Benjamin (Robinson Stévenin), der nicht im Traum auf die Idee käme, die Bucht zu verlassen. Von dem Moment an, in dem er der heimgekehrten Angèle begegnet, versucht er, sie zu verführen. Als Kind hat er sie einmal auf der Bühne in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ gesehen. Seither ist er unsterblich in sie und in das Theater verliebt. Wenn Angèle einen großen Monolog aus Paul Claudels „Der Tausch“ rezitiert, kann er ihn vollenden. Das Theater und seine Texte haben Benjamin nicht nur Hoffnung gegeben, durch sie hat er gelernt, dass die Welt veränderbar ist, dass die Kunst einem helfen kann, den Verhältnissen zu entfliehen.

    Fazit: In einer Zeit, in der das politische und gesellschaftliche Klima immer rauer wird, in der Proteste wie die der „Gelbwesten“ mit Gewalt und antisemitischen Ausbrüchen einhergehen, erinnert einen Robert Guédiguians zauberhafter Film daran, dass ein Akt der Nächstenliebe revolutionärer sein kann als jeder Versuch, den Staat umzustürzen.

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