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    Das schweigende Klassenzimmer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Das schweigende Klassenzimmer
    Von Björn Becher

    Schon in seinem unter anderem beim Deutschen Filmpreis mehrfach preisgekrönten Drama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ beschäftigte sich Lars Kraume mit Deutschland in den Jahren nach dem Nationalsozialismus. Geht es dort um den jungen Staat Bundesrepublik im Westen, widmet sich der Regisseur nun in „Das schweigende Klassenzimmer“ der DDR im Osten. Beiden Filmen gemein ist, dass Kraume historische Tatsachen nimmt und sie in eine dramatische, spannende und mitreißende Geschichte überführt, wobei er bei Bedarf auch sehr frei mit den Fakten umgeht. Das führt in beiden Filmen zu überaus beeindruckenden Ergebnissen, die bei „Das schweigende Klassenzimmer“ noch einmal etwas mitreißender ausfallen: Das Historiendrama entfaltet gerade im Finale eine unglaubliche emotionale Wucht.

    1956: Bei einem Ausflug nach Westberlin schleichen sich Theo (Leonard Schleicher) und Kurt (Tom Gramenz) ins Kino und sehen in der Wochenschau, dass es in Ungarn einen Aufstand gegen die russische Besatzung gibt. Zurück in Stalinstadt, wo sie Teil der einzigen Abiturklasse sind, besorgen sie sich über illegales Westradio gemeinsam mit Mitschülern weitere Informationen und bekommen die erschütternde Nachricht, dass viele Aufständische, darunter angeblich sogar Fußballidol Ferenc Puskás, ums Leben gekommen sind. Am nächsten Tag entsteht zu Unterrichtsbeginn spontan die Idee der Opfer in Ungarn mit zwei Minuten Schweigen zu gedenken. Nicht jeder Mitschüler ist dafür, doch am Ende zieht die ganze Klasse mit. Während der Rektor (Florian Lukas) die Aktion unter den Tisch kehren will, bekommt bald die Schulbehörde Wind. Der Volksbildungsminister (Burghart Klaußner) brandmarkt die Abiturienten schließlich als Konterrevolutionäre und droht, die ganze Klasse von der Schule zu verweisen, sollte nicht der Anführer benannt werden…

    Lars Kraumes „Das schweigende Klassenzimmer“ basiert auf dem gleichnamigen Buch von Dietrich Garstka, der 1956 selbst Teil der Abiturklasse war, die plötzlich im Visier der Staatsmacht stand und deren komplette Zukunft bedroht war. Vor allem letzteres verdeutlicht Lars Kraume gekonnt, in dem er immer wieder unterstreicht, wie wichtig das Abitur für die einzelnen Schüler ist, wie groß die Chance ist, dadurch ein besseres Leben zu haben. Dabei nutzt er vor allem die beiden Hauptfiguren und besten Freunde mit ihrem Familienhintergrund: Während Theo aus einfachen Verhältnissen stammt und sehen muss, wie sein Vater (Ronald Zehrfeld) sich am Stahlofen kaputt schuftet, ist Kurts Vater (Max Hopp) ein aalglatter Parteifunktionär.

    Trotz des unterschiedlichen familiären Hintergrunds lastet auf beiden Jungen ein ähnlicher Druck, der aus den eigenen Familien fast noch stärker ist als von den Behörden. So setzt Theos Vater dem Sohn gerade wegen seiner nach und nach enthüllten eigenen systemkritischen Vergangenheit schwer zu. Er will verhindern, dass dieser in seine Fußstapfen tritt und auch in den Eisenhütten endet. Hier tritt eine beklemmende Ambivalenz zu Tage, die ein bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse in der frühen DDR wirft. Die übrigen Familien- und Freundesbeziehungen werden ähnlich differenziert ausgestaltet, wozu die starken Darstellerleistungen sowohl der jungen als auch der älteren Schauspieler einen entscheidenden Beitrag leisten. All das zahlt sich dann vor allem am Ende voll aus, wenn von Theo und Co. eines der größtmöglichen Opfer verlangt wird und „Das schweigende Klassenzimmer“ in ein Finale von seltener emotionaler Intensität mündet.

    Die beiden Hauptfiguren sind die beiden Pole, zwischen denen sich all die anderen Schüler bewegen. Während der von der Sache überzeugte Kurt auch unter Druck die kritische Komponente der Schweigeminuten nicht leugnen will, ist der unpolitische Theo pragmatisch und hofft mit der Notlüge, man habe eigentlich nur an den Fußballspieler Puskás, einen Helden des Sozialismus, gedacht, die Sache zu entschärfen. Daneben gibt es Figuren wie den überzeugten Sozialisten Erik (Jonas Dassler), der komplett gegen die Aktion ist und trotzdem selbst verstärkt zum Opfer der Folgen wird. Es ist herausragend, wie Kraume all diese Figuren in Stellung bringt und exemplarisch verschiedene Konflikte bei ihnen ansiedelt, ohne dass auch nur ansatzweise der Eindruck einer kühlen Anordnung entsteht – ganz im Gegenteil. „Das schweigende Klassenzimmer“ ist in bestem Sinne dramatisch aufgeladen und von Anfang bis Ende ungemein aufwühlend.

    Dadurch, dass die Hauptfiguren im Kino das erste Mal vom Aufstand erfahren, sehen wir die dramatischen Bilder aus Ungarn mit ihnen, wodurch wir die Erschütterung von Theo und Kurt umso besser teilen und verstehen können. So gibt es den ersten Gänsehaut-Moment schon nach wenigen Minuten, viele weitere folgen bis zum Höhepunkt im Finale. Lars Kraume bedient sich dabei gekonnt der kompletten dramaturgischen Klaviatur, baut auch mal einen lockeren Moment ein und scheut ebenso wenig vor etwas Pathos zurück. Er bricht dabei durchaus auch mit Erwartungen. Ein eingeführtes Liebesdreieck etwa bringt nicht den vielleicht zu erwartenden zusätzlichen Konfliktstoff mit, sondern wird nach kurzen Auseinandersetzungen fast schon beiläufig aufgelöst. Letztlich fällt angesichts des überaus überzeugenden erzählerischen Gesamtentwurfs auch die einzige kleine Schwäche des Films nicht ins Gewicht: die etwas zu sehr als Erklärbär platzierte Figur Edgar (Michael Gwisdek), einem schwulen Eigenbrötler, der etwas zu oft für die Schüler, aber vor allem für jüngere Zuschauer die Gesamtsituation erläutert.

    Fazit: Mit „Das schweigende Klassenzimmer“ beweist Lars Kraume wie intensiv und dramatisch man die jüngere Geschichte im Kino aufarbeiten kann. Herausragend!

    Wir haben „Das schweigende Klassenzimmer“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film als Berlinale Special Gala gezeigt wird.

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