Mein Konto
    Tatort: Stau
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tatort: Stau
    Von Lars-Christian Daniels

    Die baden-württembergische Landeshauptstadt ist nicht nur die Heimat der schwäbischen Automobilriesen Daimler und Porsche, die nach dem „Dieselgate“ in den vergangenen Wochen verstärkt in die Schlagzeilen gerieten – Stuttgart ist auch Deutschlands Staustadt Nr. 1! Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik verschwenden die Autofahrer so viel Zeit auf verstopften Straßen wie im „Kessel“ – mit durchschnittlich 34 zusätzlichen Prozent zur normalen Fahrzeit liegt Stuttgart in diesem Negativranking noch vor Köln, Hamburg oder München. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Filmemacher Dietrich Brüggemann („Kreuzweg“) die Idee zu seinem ersten „Tatort“ bei einer Autofahrt durch Stuttgart kam: Der Regisseur und Drehbuchautor steckte selbst mit seinem Wagen im Verkehr fest und entschloss sich kurzerhand dazu, das Erlebnis in einen Sonntagskrimi umzumünzen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Brüggemanns „Tatort: Stau“ bietet eines der außergewöhnlichsten Settings in der über 40-jährigen Geschichte der öffentlich-rechtlichen Krimireihe und liefert neben der kniffligen Tätersuche auch köstliche Dialoge und sympathisches Lokalkolorit, wie man es im Stuttgarter „Tatort“ in den vorigen Jahren selten zu sehen bekommen hat.

    Eine ruhige Wohnsiedlung im Stuttgarter Haigst, an einem regnerischen Herbstabend: Direkt vor den Wohnzimmerfenstern der alleinerziehenden Sophie Kauert (Amelie Kiefer) und ihrer griesgrämigen Nachbarin Frau Ott (Sabine Hahn) wird eine junge Frau von einem Auto überfahren. Der Fahrer des Wagens ergreift die Flucht, die Jugendliche verstirbt wenige Minuten später an Ort und Stelle. Der einzige Tatzeuge ist drei Jahre alt: Während seine Mutter am Herd gestanden und sich Frau Ott einen schlechten Krimi angeschaut hat, konnte Kauerts Sohn Philipp (Lias Funck) die Unfallflucht offenbar beobachten. Doch der Kleine liefert den herbeigerufenen Stuttgarter Kommissaren Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), die bei ihren Ermittlungen von Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) und Gerichtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) unterstützt werden, nur sehr vage Hinweise auf den Täter. Dank einer Baustelle in der Nähe der Siedlung führt der einzige Fluchtweg des Unfallsünders aber direkt auf die Stuttgarter Weinsteige: Dort stehen hunderte Autos im Stau, weil ein Wasserrohrbruch die Fahrbahn unpassierbar gemacht hat. Und in einem der Wagen muss der Täter stecken...

    Wir haben uns natürlich gefragt: Wie soll man das machen mit der Weinsteige? Da ist ja oft genug Stau, aber nicht so lang, wie man das für die Dreharbeiten bräuchte“, verriet Hauptdarsteller Richy Müller vor der TV-Premiere des Krimis, doch der SWR fand dafür eine Lösung: Regisseur Dietrich Brüggemann, der das Drehbuch gemeinsam mit Daniel Bickermann („Winterjagd“) schrieb, drehte seinen Debüt-„Tatort“ zu großen Teilen in einer Freiburger Messehalle, wo die Weinsteige mit 100 Metern Mauer, 80 Metern Bluescreen und nachträglich eingefügtem Stuttgart-Panorama kurzerhand nachgebaut wurde. Kleinere Unterschiede zum Originalschauplatz werden den ortskundigen Zuschauern zwar auffallen, zumal sich die etwas sterile Atmosphäre im künstlich konstruierten Feierabendverkehr nicht leugnen lässt, doch unter dem Strich haben die Techniker und Szenenbildner hier einen erstklassigen Job abgeliefert – so wie auch Brüggemann, der bei der „Tatort“-Vorpremiere beim SWR Sommerfestival auf dem Stuttgarter Schlossplatz großen Applaus erntete. Der Filmemacher bringt die typischen „Tatort“-Momente elegant in seinem clever arrangierten Mikrokosmos unter: Dem Leichenfund zum Auftakt folgen eine improvisierte Obduktion, die Auswertung der Spuren und die Verhöre der Verdächtigen, die allesamt im selben Stau stehen.

    Die möglichen Täter führt der Regisseur Brüggemann schon vor Lannerts Eintreffen in aller Knappheit beim Publikum ein. In einer urkomischen Exposition, bei der jeder von ihnen in einer Alltagsszene gezeigt wird und sich anschließend bei zur Gemütslage passender Radiomusik im Stau wiederfindet, wird das Fundament für eine klassische Whodunit-Konstruktion gelegt. Der Filmemacher bringt hier das Kunststück fertig, in wenigen Minuten alles für den weiteren Verlauf Wichtige über die Verdächtigen zu erzählen und hält ihnen gekonnt den Spiegel vor, ohne zu tief in die Klischeekiste zu greifen: Da gibt es den besserwisserischen „Bruddler“ Günther Lommel (Rüdiger Vogler), den von seinem Chef ausgenutzten Angestellten Matthias Treml (Daniel Nocke), die arrogante Geschäftsfrau Ceyda Altunordu (Sanam Afrashteh) und ihren bedauernswerten Chauffeur Bernd Hermann (Jacob Matschenz), den kiffenden Pflegedienstfahrer Kerem (Deniz Ekinci), die zur Paartherapie verabredeten Marie-Luise (Julia Heinemann) und Gerold Breidenbach (Eckhard Greiner), den fremdgehenden Anwalt Moritz Plettner (Roland Bonjour) und die gestresste Mutter Tina Klingelhöfer (Susanne Wuest), deren anstrengende Tochter Miris (Anastasia Clara Zander) am liebsten den ganzen Tag nur Peter Lichts Deutschpop-Song „Wettentspannen“ im Radio hören würde. Sie alle könnten den Unfall verursacht haben und dürfen schon bald den Kommissar in ihrem Auto begrüßen.

    Der 1027. „Tatort“ ist damit zwar ein actionfreier und zugleich sehr dialoglastiger Krimi, doch die kleinen Längen im Mittelteil werden durch den höchst amüsanten und bisweilen schwarzen Dialogwitz („Lieber keine Kinder, als Kinder, die vom eigenen Vater totgefahren werden!“), köstliche One-Liner der Kommissare („Fünf Wochen unfallfrei? Kompliment.“) und die sympathischen Nebenfiguren mehr als wettgemacht: Einen grandiosen Auftritt legt zum Beispiel der urschwäbische Hausdrachen Frau Ott (Sabine Hahn, „Buddy“) hin, der den perplexen Bootz bei der Stippvisite in dessen Wohnung ordentlich abwatscht und nebenbei noch sämtliche Nachbarn im Befehlston zur Schnecke macht. Auch eine spontane Kiffer-Session im Krankentransportwagen, ein feuchtfröhlicher Junggesellenabschied und eine Handvoll schwäbischer Wutbürger, die gegen Lannert und den Schutzpolizisten (Stolle Bernd Gnann) aufbegehren, sorgen für Lacher und bringen willkommene Abwechslung ins Geschehen. Damit ist Brüggemanns Debüt-„Tatort“ unter dem Strich einer der besten Stuttgarter Beiträge der jüngeren Vergangenheit – denn trotz des begrenzten Schauplatzes und des engen Handlungskorsetts liefert sein Krimi (fast) alles, was einen guten „Tatort“ ausmacht.

    Fazit: Dietrich Brüggemanns „Tatort“-Debüt“ macht Lust auf weitere Folgen unter seiner Regie: Neben dem außergewöhnlichen Setting und einer kniffligen Tätersuche bietet der Krimi auch großartige Figuren, köstlichen Dialogwitz und reichlich schwäbisches Lokalkolorit.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top