Eine albtraumhafte Schneekönigin
Von Janick NoltingDas Reich der Schneekönigin erscheint mehr als optische Täuschung denn als greifbares Gebilde. In den Lichtbrechungen eines Kristalls funkelt die eisige Landschaft als verzerrte Form und mittendrin dieser gespenstische weiße Turm, in dem die Herrscherin leben soll. Die französische Autorenfilmerin Lucile Hadžihalilović entführt ihr Publikum in „Der Eisturm“ ein weiteres Mal in eine albtraumhafte, gespenstisch wabernde Märchenwelt, nachdem sie sich mit kryptischen Werken wie „Evolution“ oder zuletzt „Earwig“ mindestens in der internationalen Festivalszene einen Namen gemacht hat. Wieder erzählt sie dabei eine Coming-of-Age-Geschichte, die mit fantastischen und surrealen Elementen nach ihrer ganz eigenen, unverkennbaren Poetik sucht.
In „Der Eisturm“ wagt sich die Regisseurin in die düster schummernden Trugbilder und Illusionsmaschinen des Kinos und der Filmproduktion an sich. Und vielleicht hat diese Kunstform weniger Erhabenes und Erleuchtendes an sich, als man es sich gern einreden möchte, sondern führt nur tiefer hinab in die Abgründe des Menschen. Wie passend also: Der Einstieg in die Welt des Films führt hier über ein eingebrochenes Fenster tief unter die Erde. Das Filmset wird erst über den Abstieg in einen dunklen, feuchten Keller erreichbar.
In diese geheimnisvolle Welt verirrt sich in den 1970er-Jahren eine Teenagerin namens Jeanne (Clara Pacini), die aus dem Kinderheim im Gebirge flieht, per Anhalter ins Tal fährt und die Nacht heimlich hinter den Kulissen einer Filmproduktion verbringt. Kaum schläft sie ein, nimmt „Der Eisturm“ fantastische Züge an: Schnee fällt von der Decke, seltsames Licht dringt durch Wände und Ritzen.
Hier erscheint ihr auch das erste Mal eine Schauspielerin: Cristina (Marion Cotillard) spielt die Schneekönigin in einer Neuverfilmung des berühmten Märchens. Jeanne verfällt ihrem Zauber, wird Teil der Dreharbeiten und schon bald zerfließen die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Wachen und Träumen…
Es ist kein leichtes Unterfangen, diesen Film zu sehen. Lucile Hadžihalilović bleibt ihrem spröde verrätselten, stark entschleunigten Stil treu, bei dem man mitunter Schwierigkeiten hat, überhaupt noch eine Handlung auszumachen, was immer das in den Filmen dieser Künstlerin überhaupt bedeuten soll. Wer sich erst einmal in die unverwechselbare, finstere Stimmung und die atmosphärisch-schauerlichen Bilder hineinziehen lässt, wird „Der Eisturm“ als ebenso beeindruckend wie Hadžihalilovićs Vorgängerwerke empfinden.
Hadžihalilović ist eine höchst talentierte Formalistin, wahrscheinlich eine der aktuell faszinierendsten überhaupt. Und so wendet sie die Mechanismen und Phantasmen ihres Mediums hin und her, schüttelt sie durch wie ein Kaleidoskop, das mit immer neuen Kippbildern die eigene Fiktion entgrenzt.
Sie schickt ihre junge Protagonistin nicht nur durch die labyrinthischen Gänge der Filmindustrie, sondern auch ins Kino und den Raum, der dessen Projektion erst ermöglicht. Und so lässt Hadžihalilović ihr Publikum aus den Kinosaal heraus in einen anderen Kinosaal blicken, in dem Leinwand, Zuschauerraum und die Kulissen des Films eins werden.
Auch der Regisseur am Set kann diesen ominösen und magischen Übergangsraum kaum bändigen. Er wird sicher nicht zufällig gespielt von Gaspar Noé („Irreversibel“), dem langjährigen Partner von Lucile Hadžihalilović, der sich in seinem Experimentalfilm „Lux Aeterna“ ebenso den alptraumhaften Auswüchsen des Filmgeschäfts zwischen menschlichen Grausamkeiten und medialem, irrlichterndem Wunderwerk widmete. Beide Filme können als stilistisch grundverschiedene und im Geiste dennoch vereinte Werke gesehen werden.
In Hadžihalilovićs „Eisturm“ folgt die Konfrontation mit der Kunst nicht nur einer hemmungslos cinephilen, sondern auch einer kindlichen Logik, die zwischen Fiktion und Realität nicht unterscheidet. Obwohl sie unmittelbar in das Getriebe von deren Konstruktion schauen, die bemalten Kulissenwände berühren und sich im Kostümfundus verstecken kann! Da bleiben dennoch Unbehagen und Staunen, mit der man sich dem täuschenden Realitätsverlust hingibt, der in diesem Film immer beklemmendere Züge annimmt.
Wenn Jeanne einem anderen Mädchen das Märchen von der Schneekönigin vorliest, steht außer Frage, dass das Wundersame in der Welt existiert. Es schwappt dann auch immer mehr auf die Bilder des Films über und wird erst nach und nach mit Brüchen und offenen Fragen versehen.
Mit Marion Cotillard („The Dark Knight Rises“) hat Hadžihalilović jedenfalls eine passende Besetzung für die auratisch kühle Schneekönigin gefunden, bei der man bis zum Schluss nie gänzlich schlau wird, was das für eine Gestalt ist, was sie wirklich im Schilde führt. Ist sie tatsächlich eine Zauberin, die die Krähe am Set verhext, damit sie einer jungen Statistin in die Augen pickt? Oder ist sie schlicht eine sozial unverträgliche Schauspiel-Diva, die allen anderen das Leben zur Hölle macht? Alles scheint sich um sich zu drehen. Sie sieht und hört alles, bekommen die jungen Statistinnen drohend zu hören. Wer sie anhimmelt, muss sich selbst aufgeben.
Für Jeanne wird sie derweil zur Ikone, zum schillernden und ebenso unerreichbaren Vorbild, das geisterhaft in den Kulissen erscheint. Manchmal auch nur als Kostüm und leere Hülle zwischen Tod und Leben. „Der Eisturm“ wird damit ebenso zum Film über das Schauspiel. Vor gähnend leerer Leinwand spielt das Kopfkino weiter und Jeanne probiert im Kinositz, ihrem Idol nachzueifern. Sie raucht die halb verglühte Zigarette der Diva und nimmt deren Haltung ein. Schon zuvor nimmt sie eine neue Identität an und gibt sich als Bianca aus, nachdem sie die Handtasche der zuvor schon von ihr beobachteten jungen Frau auf der Straße gefunden hat.
Später dann, wenn sich die beiden Frauen unterschiedlicher Generationen näherkommen, werden die einenden Traumata und seelischen Schmerzen der beiden hochgespült. Cristina als Mutterersatz, kann das gutgehen? Der Kuss der Schneekönigin ist in Hans Christian Andersens Märchen bereits eine eisige Verführung – bei Hadžihalilović kommt alles noch Schlimmer! Hier erwächst daraus eine obsessive Dynamik, die neben Fürsorge und Bewunderung ebenso missbräuchliche, ausnutzende, irgendwann regelrecht todessehnsüchtige Formen annimmt.
Die Regisseurin und ihr Koautor Geoff Cox greifen das Grundmotiv vieler Märchen auf: die Geschichte eines Kindes, das allein in einer grausamen Welt überleben muss, in der Gefahren an jeder Ecke lauern. Es sehnt sich nach Freiheit und Sicherheit und weiß, dass beides ebenso mit Hirngespinsten und Fantasiegebilden verbunden ist, die erst dort ihre ganze Hinterlist offenbaren, wo alles fast zu spät ist. Insofern entpuppt sich Lucile Hadžihalilovićs Kino trotz aller halluzinierender Sogkraft nicht nur als suggestiv verwirrendes, sondern ebenso aufklärerisches, das versucht, dem Zauber der eigenen Bilder zu entkommen.
Fazit: „Der Eisturm“ ist ein weiterer sperriger, rätselhafter, aber höchst stimmungsvoller Märchen-Albtraum von Lucile Hadžihalilović über falsche Idole, die Sinnestäuschungen des Kinos und die Suche einer Heranwachsenden nach einem Anhaltspunkt im Leben.
Wir haben „Der Eisturm“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.