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    Der See der wilden Gänse
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der See der wilden Gänse

    Der neue Film von Goldene-Bär-Gewinner Yi'nan Diao

    Von Björn Becher

    Mit seinen ersten drei Filmen hat sich Diao Yinan als eine der aufregendsten Stimmen im chinesischen Gegenwartskino etabliert. Wobei er seine Fans gerne ein wenig auf die Folter spannt, wenn er sich zwischen seinen Werken doch meist ordentlich Zeit nimmt: Erst ganze fünf Jahre, nachdem der herausragende Neo-Noir-Thriller „Feuerwerk am helllichten Tage“ bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, feierte „Der See der wilden Gänse“ seine Weltpremiere im offiziellen Wettbewerb bei den Filmfestspielen in Cannes.

    Nun kommt die actionreiche Gangsterballade in die deutschen Kinos – und dürfte bei Anhängern des Regisseurs natürlich für Freude, aber durchaus auch für ein wenig Enttäuschung sorgen. Denn selbst wenn sich die lange Vorbereitung vor allem bei den einmal mehr hochklassigen Bildern auszahlt, fühlen sich andere Elemente doch etwas zu sehr wie eine Wiederholung von Themen des noch stärkeren Vorgängers an.

    Eine Einstellung wie ein Gemälde.

    In einer regnerischen Nacht treffen sich ein Mann mit auffälliger Wunde im Gesicht und eine Frau mit rotem Pulli. Er heißt Zenong Zhou (Ge Hu) und ist ein Kleingangster auf der Flucht. Nach einer blutig verlaufenden Revierstreitigkeit innerhalb seiner Motorroller-Gang hat er versehentlich einen Polizisten erschossen. Nun sind nicht nur die Ex-Kumpanen, sondern auch eine Hundertschaft der Polizei unter der Führung des kompromisslosen Captain Liu (Fan Liao) hinter ihm her.

    Sie heißt Aiai Liu (Gwei Lun Mei) und ist eine Prostituierte, die ihm bei seinem Plan helfen soll: Zenong Zhou will sich absichtlich von der Polizei schnappen lassen, damit Aiai Liu die auf ihn ausgesetzte Belohnung kassieren und seiner Frau (Regina Wan) zur Versorgung der Familie zukommen lassen kann. Doch das ist alles sehr viel komplizierter als es sich im ersten Moment anhört…

    Form (ganz weit) über Inhalt

    Warum es nicht so einfach ist, die auf sich selbst ausgesetzte Belohnung abzusahnen, wird dem Zuschauer in „Der See der wilden Gänse“ nicht gerade nachdrücklich vermittelt. Natürlich schwebt von Beginn an die Frage im Raum, wie weit Zhou der ihm unbekannten Liu trauen kann, das Geld dann auch wirklich abzugeben. Zudem beschäftigt es ihn, in den fast sicheren Tod zu gehen. Außerdem wird immer wieder betont, dass Aiai Lius Beitrag zu seiner Verhaftung möglichst glaubwürdig ausfallen muss. Doch so richtig scheint sich Diao Yinan nicht für diese Umstände zu interessieren.

    In einer Erzählung mit vielen Rückblenden und Auslassungen geht es dem Regisseur stattdessen immer wieder um das Kreieren von Einzelmomenten und dabei vor allem um starke Bilder: Wenn Liu dem Kleingangster auf einem Ruderboot einen Blow Job gibt, interessiert eigentlich weniger der blutverschmierte Geldschein, den er ihr gibt und der gegenüber der Polizei als „Beweis“ dienen soll, sondern mehr die Einstellung des friedvollen Durchatmens, wenn sich die gehetzten Figuren trotz der Gänseschreie im Hintergrund für einen kurzen, stillstehenden Moment in einer ganz persönlichen Idylle zu befinden scheinen.

    "Der See der wilden Gänse" ist nicht nur ein Neo-Noir, sondern auch ein Neon-Noir.

    Eine Idylle ist die Gegend um den titelgebenden See der wilden Gänse allerdings gar nicht: Wie schon in „Feuerwerk am helllichten Tage“ zeichnet Regisseur Diao Yinan ein trostloses Bild seiner angeblich doch so blühenden Heimat. Bei den Hausruinen, die immer wieder den Hintergrund für Szenen liefern, ist man sich nicht ganz sicher, ob sie überhaupt jemals bewohnbar waren.

    Stattdessen muss der örtliche Hotelier, der sonst nur ein paar Geschäftsreisende auf Durchgangsstation beherbergt, seine Räumlichkeiten für eine Kleingangsterbesprechung zur Verfügung stellen – auch wenn das bedeutet, dass er nach einer blutig endenden Streitigkeit erst einmal feucht durchwischen muss. Da passt es dann auch perfekt ins Bild, dass die Gangster sich hier mit dem Diebstahl von Mopeds (die Batterie ist das eigentlich wertvolle) durchschlagen. Bandenkrieg zur Abwechslung mal nicht um Drogen und Waffen, sondern um fast schrottreife Mopeds. Das wirkt bisweilen fast schon grotesk …

    … und wird von Diao Yinan auch entsprechend ins Bild gerückt: Nicht nur die großspurig auftretenden Gangster, sondern auch die ihnen auf die Pelle rückenden Polizisten fahren in Scharen auf kleinen Mopeds durch die Landschaft – das hat fast schon etwas von einem Slapstick-Stummfilm, nur dass das Absurde hier immer auch schnell ins Brutale umkippen kann. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wird einer der Cops auch noch von seinem Vorgesetzten angeschnauzt, weil er ein (natürlich gefälschtes) Designer-T-Shirt anhat: So etwas trägt man als gestandener Moped-Fahrer nämlich nicht!

    Der Kommandant schwört seine knallharten Moped-Cops auf die Mission ein.

    Die Aufnahmen der sich durch dunkle Nacht und strömenden Regen kämpfenden Mopeds wirkt mit der Zeit aber immer weniger komisch, sondern entwickeln stattdessen seinen ganz eigenen Sog, der schon bald vergessen lässt, dass die Geschichte an sich nicht wirklich fesselt. Wenn Zhou – kurz bevor er den Cop erschießt – blutüberströmt auf dem Moped durch den Regen fährt, erinnern die fast schwarz-weißen Bilder endgültig an eine stilisierte Version des klassischen Hollywood-Noir-Kinos.

    Neon-Farben dienen dem Regisseur dabei immer wieder zur Brechung solcher Aufnahmen. Es sind aber gerade nicht leuchtende Reklametafeln, wie man sie aus anderen Neo Noirs kennt und vielleicht in einem chinesischen Film erst recht erwarten würde. Stattdessen wird auf einem Marktplatz (u. a. zum deutschen Schlager „Dschingis Khan“) getanzt und fast alle Männer tragen Turnschuhe mit neonfarben-blinkenden Sohlen. Richtig absurd wird es aber erst, als sich all diese Männer als Cops erweisen und zu einem Leichenfund eilen. Das klassische Thriller-Bild von Cops im Gras wird plötzlich durch aggressiv blinkende Schuhe aufgebrochen.

    Mehr als nur eine Femme Fatale

    Wenn Aiai Liu, die spannendste Figur des Films, zu Beginn lässig an der Zigarette zieht und mit ihrem roten Pullover aus der tristen Umgebung sticht, wirkt sie wie die typische Femme Fatale. Dass sie aber alles andere als cool-kontrollierend ist, wird schon wenig später klar, als ihr ein gegen die Wand knallender Fußball kurz die Panik in die Augen treibt. Selbst am Ende des Films ist man dann nicht wirklich schlau aus ihr geworden, sie ist einem aber ans Herz gewachsen. Etwas ganz ähnliches lässt sich wohl auch über „Der See der wilden Gänse“ sagen.

    Fazit: Ein superstylisher Neo-Noir, der seine Bildkompositionen immer wieder mit neonfarben blinkenden Turnschuhen und anderen Absurditäten aufbricht, ohne deshalb an inszenatorischer Strenge oder Präzision einzubüßen. Nur die Erzählung selbst kann dabei nicht mit früheren Werken des preisgekrönten Regisseurs mithalten.

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