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    Leaving Neverland
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Leaving Neverland

    Ist Michael Jackson ein Kinderschänder?

    Von Michael Meyns

    Michael Jackson ist einer der berühmtesten Künstler des späten 20. Jahrhunderts. Songs wie „Black Or White“, „Beat It“ oder „Bad“ sind legendäre Welthits, „Thriller“ ist immer noch – mit deutlichem Vorsprung - das weltweit meistverkaufte Album aller Zeiten, mit dem Moonwalk revolutionierte Jackson den Tanz und Millionen Menschen bejubelten rund um den Globus seine Konzerte. Doch neben all diesen Erfolgen gab es auch dunkle Gerüchte um den Sänger. Schon zu Lebzeiten sah sich der 2009 durch eine versehentliche Narkosemittel-Überdosis gestorbene Jackson mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er Kinder missbraucht habe. Ein Ermittlungsverfahren wurde 1994 nach einer Zahlung von Jackson an den Kläger eingestellt, ein Gerichtsverfahren endete 2005 mit einem Freispruch. Nach den vier, oft nur sehr schwer auszuhaltenden Stunden von Dan Reeds Dokumentation „Leaving Neverland“ fällt es unglaublich schwer, etwas anderes zu glauben, als dass Michael Jackson nicht nur ein grandioser Musiker, sondern auch ein Kinderschänder war.

    Im Zentrum von Reeds Dokumentation stehen zwei Personen, die mit ruhiger Stimme und in erschreckender Ausführlichkeit davon berichten, wie sie als Kinder Pop-Superstar Michael Jackson kennenlernten, sich mit ihm anfreundeten und er sie schließlich über einen Zeitraum von mehreren Jahren missbraucht habe. Der inzwischen 36 Jahre alte Australier Wade Robson traf Jackson im Alter von fünf Jahren. Sein Sieg bei einem Nachwuchstanzwettbewerb sorgte für eine erste Begegnung mit seinem Idol, das er später in den USA besuchte. Schließlich zog Robsons Mutter mit Wade und seiner älteren Schwester sogar nach Los Angeles in die Nähe des Musikers. In vielen Details ähneln die Erzählungen von Robson denen des zweiten Protagonisten: Jimmy Safechuck, inzwischen 41, trat mit acht Jahren zusammen mit Jackson in einem Werbespot auf. Der Musiker nahm ihn mit auf Tour, besuchte ihn regelmäßig. Die geschilderten Muster gleichen sich: zunehmende Nähe, großzügige Geschenke an die Familien, die es von der Aura des Weltstars geblendet zuließen, dass Jackson die Kinder immer mehr vereinnahmte, während sie selbst gleichzeitig in die Ferne rückten.

    Michael Jackson und der junge Jimmy Safechuck waren sich sehr nah.

    Und dann kommen Robson und Safechuck nach und nach zu Schilderungen von Missbrauch: erst Küsse, dann intime Berührungen, Oralsex, Masturbation, später sogar ein Versuch der analen Penetration. Detailreich beschreiben Robson und Safechuck Jacksons angebliche Vorlieben: Nackt, auf allen Vieren, sollten sie auf dem Bett knien, während Jackson hinter ihnen saß, ihren Anus betrachtete und dabei masturbierte. Robson erwähnt noch ein Peter-Pan-Poster an der Wand, das er in diesem Moment betrachtete habe. Die reduzierte Inszenierung von Reed verlässt sich voll auf die Wirkung der Worte seiner Protagonisten. Meist sehen wir nur die beiden Männer, die in großen Räumen auf Sesseln sitzen und erzählen. Der Filmemacher selbst schaltet sich nur selten mit einer Nachfrage ein, lässt meist die Protagonisten einfach nur reden. Mal mit fester, mal mit brüchiger Stimme erklären sie sich umfassend.

    Erst Missbrauch, dann Liebesentzug

    Durch den Schnitt verstärkt der Filmemacher die Parallelen zwischen den beiden Erzählungen. Im Wechsel geht er chronologisch mit Robson und Safechuck sowie ihren jeweiligen Familien die Geschehnisse durch. Zu den Schilderungen der Liebe und Verehrung für den Superstar und des folgenden Missbrauchs kommen dann auch ähnliche Erfahrungen, als Jackson plötzlich einen neuen Lieblingsjungen an seiner Seite hatte. Beide Familien erzählen, wie sie sich langsam ausgeschlossen fühlten, die stundenlangen Telefonate, die täglichen Anrufbeantworternachrichten (die teilweise auch abgespielt werden) oder die vielen Faxe (die fast schon etwas Gespenstisches haben) ausblieben. Reed arbeitet dabei heraus, wie sich Robson und Safechuck trotz allem nicht von ihrem Idol lösen können, darauf hoffen, seine Liebe wieder zu bekommen. Sie beschreiben, wie der Verlust der Nähe zu Jackson wie ein Entzug ist, der sie der Verzweiflung nahebrachte und jeden Gedanken daran, etwas von den Geschehnissen zu verraten, unmöglich gemacht habe. Bei den Anschuldigungen verteidigten sie dann auch ihr Idol. Robson sagte beim Missbrauchsprozess gegen Jackson sogar für ihn aus und stritt ab, jemals sexuell missbraucht worden zu sein.

    Jimmy Safechuck heute

    Nachrichtenbilder, Archivaufnahmen und vor allem Drohnenaufnahmen von Haussiedlungen, der Neverland-Ranch und anderer Schauplätze unterbrechen bzw. begleiten nur hin und wieder die Schilderungen, bei denen neben Robson und Safechuck vor allem auch die Mütter der Männer eine größere Rolle einnehmen. Auch diese berichten, wie fasziniert sie von dem Musiker und seiner Welt waren, wie Jackson für sie zu einer Art zweitem Sohn wurde. Reed zeichnet Abhängigkeitsstrukturen nach, die scheinbar aufgebaut wurden, als die Familien sich Jackson hingaben, im Fall der Robsons durch räumliche Trennung und Scheidung sogar zerbrach. Gerade die Mütter kommen auch hier nicht besonders gut weg, müssen sich mindestens vorwerfen lassen, blind gewesen zu sein, auch weil sie die eigene Karriere ihrer Söhne fördern wollten.

    Entsprechend gebrochen wirkt gerade Wade Robsons Mutter, bei der die Tochter sogar Angst äußert, sie könnte sich aufgrund ihrer Schuldgefühle umbringen. Das ist eines von vielen Elementen, welche die Glaubwürdigkeit der Ankläger verstärkt: Wer würde es seinen Müttern (aber auch Geschwistern und dem Ehepartner) antun, ihr Leben mit einer solchen Aussage massiv zu erschüttern, wenn diese nicht wahr ist? So gebrochen die Familien sind, so sind es vor allem aber natürlich Robson und Safechuck selbst, die sich offensichtlich immer noch nicht von ihrem Idol losreißen können. So sprechen sie auch zehn Jahre nach dem Tod des Mega-Stars nur voller Emotionen, ja sogar mit Liebe von ihrer Beziehung zu Jackson, nennen ihn nicht „Michael Jackson“ oder distanziert „er“, sondern sprechen immer wieder von „Michael.“

    Eine Seite der Geschichte

    „Leaving Neverland“ ist dabei absolut und ganz bewusst einseitig. Nur die mutmaßlichen Opfer und ihre unmittelbaren Angehörigen kommen zu Wort. Der Regisseur selbst nimmt eine Beobachterposition ein, wird nicht zum investigativen Ermittler. Er hat nicht versucht, Zeugen zu finden, die die Aussagen von Robson und Safechuck bestätigen. Er hat nicht versucht, die zahlreichen Assistenten, Bodyguards, Fahrer, Köche und sonstige Angestellte, die im Laufe der Jahre in Jacksons Nähe agierten, vor die Kamera zu zerren und zur Rede zu stellen. Hätten sie nicht ahnen müssen, wenn solche Abgründe hinter Jacksons kinderliebender Fassade lauerten? Wie hat es der Pop-Mega-Star gegenüber seinen Mitarbeitern begründet, als er bei der Konzerttour mit den Safechucks dafür sorgte, dass von Stadt zu Stadt das Hotelzimmer der Eltern immer weiter von der Suite entfernt lag, in der er mit dem Jungen nächtigte und sich sexuelle Handlungen abspielten?

    Reed positioniert sich aber eben auch gar nicht als Reporter, der auf die Straße geht und Leuten das Mikro unter die Nase hält. Er ist ein Beobachter, der sich Dinge erzählen lässt. Er beschränkt sich dabei komplett darauf, Personen ausschließlich über das reden zu lassen, an dem sie auch selbst wirklich beteiligt waren. So gibt zum Beispiel Wade Robson älterer, in Australien zurückgelassener Bruder auch nur Auskunft über die Dinge, die er erlebt hat. Etwa über den Anruf der Mutter, dass sie und Wade nicht nach Australien zurückkehren, sondern noch länger bei Michael Jackson wohnen werden. Oder darüber, wie sein Bruder eines Tages vor ihm zusammenbrach und ihm endlich die Wahrheit erzählte. Die Jackson-Familie habe er genau deswegen erst gar nicht befragt, so Reed. Sie waren damals ja nie dabei, können also gar keine Erlebnisse aus erster Hand liefern. Weil am Ende aber so natürlich nur die Aussagen der Opfer in „Leaving Neverland“ zu hören sind, ist es für die Jackson-Fans viel leichter, alle Anschuldigungen als Lügen abzutun, Robson und Safechuck als geldgierig zu bezeichnen und auf ihre früheren Aussagen, dass nichts passiert sei, hinzuweisen.

    Wade Robson ahmte den Stil Michael Jacksons nach.

    Doch dieses Problem haben wohl vor allem Leute, die „Leaving Neverland“ nicht gesehen haben. Auch wenn Fans ihn fanatisch verteidigen, Robson und Safechuck beschimpfen (worauf am Ende des Films auch kurz eingegangen wird) und Jacksons Erben direkt nach der Erstausstrahlung der Dokumentation auf HBO eine 100 Millionen Dollar schwere Klage wegen Verleumdung eingereicht haben: Nach den vier Stunden von „Leaving Neverland“, in denen man Dinge hört, die man eigentlich nie in seinem Leben hören wollte, in denen man zwei jungen Männern ganz nahe kommt, wenn sie mit erstaunlicher Besonnenheit, ohne Hass, aber mit großer Überzeugungskraft davon berichten, was ihnen angetan wurde, ist es schwer nicht zu dem Schluss zu kommen: Michael Jackson war zwar einer der größten Künstler des 20. Jahrhunderts, aber er war scheinbar auch ein Kinderschänder.

    Fazit: Trotz aller Einseitigkeit machen es die vier langen, oft kaum auszuhaltenden Stunden von „Leaving Neverland“ schwer, weiterhin daran zu zweifeln, welches Monster sich hinter der Fassade des King Of Pop verbarg.

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