Mein Konto
    Zeiten des Umbruchs
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Zeiten des Umbruchs

    Der Amerikanische Traum ist schon lange ausgeträumt

    Von Michael Meyns

    Die Karten sind gezinkt“, sagt der von Anthony Hopkins gespielte Großvater einer jüdischen Einwandererfamilie einmal und bringt damit das zentrale Dilemma des Films auf den Punkt. James Grays autobiographisch gefärbter „Armageddon Time“ spielt im New Yorker Stadtteil Queens während des Spätsommers 1980. Es ist der Beginn des Reagan-Jahrzehnts, das Amerika und insbesondere New York einschneidend verändern wird – allerdings nicht unbedingt zum Positiven. Der bisher persönlichste Film des „Ad Astra“-Regisseurs beginnt dabei erstaunlich unscheinbar, fast banal wirken die Bilder einer vermeintlich heilen Familie.

    Doch nach und nach erhöht James Gray subtil die Fallhöhe, wenn er anhand zweier Schulfreunde – der eine weiß, der andere schwarz – von Vorurteilen, Rassismus und den meist fruchtlosen Versuchen, sich im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten unabhängig von Klasse und Rasse zu verwirklichen, erzählt. Denn das ist entgegen der offiziellen Lesart ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man nicht zufällig über die richtigen Beziehungen verfügt…

    Paul Graff (Michael Banks Repeta) eckt mit seinen Künstler-Ambitionen überall an – nur sein Großvater (Anthony Hopkins) scheint ihn zu verstehen.

    New York, 1980. Für Paul Graff (Michael Banks Repeta) beginnt das sechste Schuljahr auf einer Schule in einem der wohlhabenderen Viertel von Queens. Dort trifft er auf den sitzengebliebenen Johnny Davis (Jaylin Webb), den einzigen Schwarzen in der Klasse, der allein mit seiner bettlägerigen Großmutter lebt. Pauls Familie wirkt da im Vergleich wie ein sicherer Hafen. Seine Mutter Esther (Anne Hathaway) ist im Elternverein tätig und Vater Irving (Jeremy Strong) ist zwar streng, hat aber trotzdem nur das Beste für seinen Sohn im Sinn. Und dann ist da noch der Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der nicht nur Pauls Träume von einem Leben als Künstler ernstnimmt, sondern auch versucht, den Enkel zu Werten und Moral anzuhalten. Doch in einer von selbstverständlichem Rassismus und beiläufigen Vorurteilen geprägten Welt ist das leichter gesagt als getan…

    Nach einem Ausflug in den Amazonas-Dschungel („Die versunkene Stadt Z“) sowie einem Griff nach den Sternen („Ad Astra“) kehrt James Gray wieder in die Welt zurück, die er am besten kennt: New York, genauer gesagt die jenseits des finanziellen und kulturellen Zentrums Manhattans gelegenen Stadtteile, in denen sich Einwanderer jeglicher Couleur eine Nische gebaut haben und versuchen, ihren ganz persönlichen amerikanischen Traum zu leben. Alle Filme, die Gray in New York gedreht hat, von seinem Debüt „Little Odessa“ über „Two Lovers“ bis hin zu „Helden der Nacht“, sind zumindest lose autobiographisch – und das gilt noch mehr für Grays achten Film „Armageddon Time“. Der junge Protagonist Paul Graff wächst zwar in Queens und nicht wie Gray in Flushing auf, aber auch der 1969 geborene Regisseur kam 1980 in die sechste Klasse, auch seine Familie stammt von ukrainischen Juden ab, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor antisemitischen Pogromen in die neue Welt emigrierten und ihren Namen vom allzu jüdisch klingenden Grayevsky zum unverfänglicheren Gray kürzten und sich auch sonst soweit wie möglich anpassten, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.

    Der Mythos vom amerikanischen Traum

    Das ist im New York des Jahres 1980 aber auch weiterhin ein schwieriges Unterfangen. Ein paar Jahre zuvor war die Metropole fast bankrott, der Times Square ist für Drogen und Prostitution statt für Musicals und Glamour bekannt. Die Polizei ist noch fast völlig weiß, der Central Park bei Nacht inoffizielles Sperrgebiet. In dieser Welt spielt „Armageddon Time“, im Spätsommer und Herbst, als der erzkonservative Schauspieler Ronald Reagan gegen den liberalen Amtsinhaber Jimmy Carter antritt. Immer wieder sind im Fernsehen im Hintergrund Szenen des Präsidentschaftswahlkampfes zu sehen und zu hören, darunter der Satz, der dem Film seinen Titel gibt: „We might be the generation that sees armageddon.“ Die apokalyptische Zeit, die Paul erlebt, ist der Zusammenbruch seines Glaubens an Amerika, an das Versprechen, dass jeder alles erreichen kann, dass weder Rasse noch Klasse der Selbstverwirklichung im Wege stehen sollten.

    Paul will Künstler werden. Er zeichnet und malt, doch in den rigiden Strukturen seiner Schule fühlt er sich ebenso unwohl wie sein Freund James, der schon viel früher als Paul erkennt, dass er in dieser Welt keine Chancen hat. Wenn Paul den Lehrer nachäfft, bekommt Johnny den Ärger; wenn Johnny davon träumt, Astronaut zu werden, machen sich schwarze Teenager in der U-Bahn über ihn lustig. Johnny wächst ohne Eltern auf, niemand unterstützt ihn, selbst sein Freund Paul wagt nicht immer, ihn zu verteidigen, wenn er rassistisch beleidigt wird. Auch Paul hat es nicht leicht, aber als Migrant der dritten Generation ist er schon wesentlich näher an den Futtertrögen Amerikas. Seinem Großvater wurde wegen seines jüdischen Namens noch der Zugang zur Universität erschwert – die Verletzungen sitzen tief, aber sie haben aus Aaron keinen verbitterter, sondern einen weisen alten Mann gemacht.

    Esther (Anne Hathaway) und Irving (Jeremy Strong) wollen gute Menschen sein - aber wer den Amerikanischen Traum träumt, der muss fast zwangsläufig die unter sich opfern, um selbst noch weiter nach oben zu kommen...

    Und doch: Wenn es darauf ankommt, lässt auch er seine Beziehungen spielen, um Paul einen Platz auf einer blütenweißen Prep-School zu sichern, die der realen Kew-Manor School nachgeahmt ist, die einst auch Donald Trump besuchte (die frischgebackene Oscargewinnerin Jessica Chastain ist in einem Cameo als dessen ältere Schwester Maryanne Trump zu sehen). Für die liberalen Eltern ist es eine Horrorvorstellung, dass Reagan Präsident werden könnte – und trotzdem schicken sie ihren Sohn auf eine Institution, die allen ihren Werten widerspricht, einfach weil sie ganz genau wissen, dass er sonst keine Chance hat. Sie haben erfahren, wie es ganz unten ist – und trotzdem opfern sie notfalls auch den schwarzen Freund ihres Sohnes, um den halb geschafften eigenen Aufstieg nicht zu gefährden.

    Genau beobachtet erzählt James Gray von der sozialen Realität Amerikas, von einer Freundschaft, die keine Chance hat, von Vorurteilen, die so tief sitzen, dass sie Generationen überdauern. „Armageddon Time“ beginnt langsam, fast behäbig, lässt sich viel Zeit bei der Schilderung der Familienverhältnisse. Doch nach und nach wird deutlich, dass Amerika keineswegs das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist, sondern vor allem diejenigen weiterkommen, die über gute Beziehungen und wenig Skrupel verfügen. Dass diese Erkenntnis sogar schon ein elfjähriger Junge machen muss, verleiht „Armageddon Time“ erst recht eine herzzerreißende Qualität…

    Fazit: Nach zwei Ausflügen in den Dschungel und das All kehrt James Gray in seine New Yorker Heimat zurück und legt mit „Armageddon Time“ einen Film vor, der auf anfangs beiläufige, dann immer intensiver werdende Weise von den pervertierten Strukturen der amerikanischen Gesellschaft erzählt. Die Illusion, dass die USA ein Land der unbegrenzten Möglichkeit ist, in der es nicht auf Klasse und Rasse ankommt, darf mit dem herzzerreißenden Finale endgültig begraben werden.

    Wir haben „Armageddon Time“ beim Cannes Filmfestival 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top