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    Babylon - Rausch der Ekstase
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Babylon - Rausch der Ekstase

    Drauf geschissen

    Von Christoph Petersen

    Der offiziell mit 75 bis 80 Millionen Dollar budgetierte, aber viel, viel teurer aussehende „Babylon – Rausch der Ekstase“ klang lange Zeit nach einem Prestigeprojekt, das wie gemacht ist für die Oscars. Ein ungemein aufwändig produziertes 3-Stunden-Epos, angesiedelt im Hollywood der Goldenen Zwanziger, bis zum Anschlag vollgestopft mit spektakulären Kostümen und Kulissen. Erdacht vom oscarprämierten „La La Land“-Mastermind Damien Chazelle, angeführt von den Top-Stars Margot Robbie und Brad Pitt, die hier nach „Once Upon A Time… In Hollywood“ direkt wieder gemeinsam der Traumfabrik und ihrer bewegten Geschichte huldigen. Aber Pustekuchen!

    Schon nach den allerersten Vorführungen sickerte schnell durch, dass die Oscar-Spekulationen wohl verfrüht gewesen seien – und jetzt, wo wir den Film gesehen haben, wissen wir auch warum: „Babylon“ ist nämlich alles andere als ein erlesen-geschmackvoller Crowdpleaser, der sein Publikum mit farbenfrohen Bildern mild-ausufernder Zwanziger-Jahre-Partys zum Mitswingen animiert. Stattdessen liefert Damien Chazelle hier einen an Derbheit kaum zu übertreffenden Rausch, bei dem Natursekt, Kotze, vor Schlangengift schäumendes Blut und ein dicker fetter Haufen Elefantenscheiße gleichberechtigt neben dem Champagner stehen. Für die Oscars ist „Babylon“ eigentlich viel zu geschmacklos – und gerade das macht ihn so mitreißend-sehenswert!

    Eine Party, die nie zu enden scheint...

    Die Filmindustrie profitiert Mitte der 1920er Jahre massiv von der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung. Das viele Geld fließt unter anderem in die legendär-ausufernden Partys, die der Vorstand der Kinoscope Studios regelmäßig auf seinem Anwesen veranstaltet. Diesmal soll es allerdings eine ganz besondere Überraschung als Höhepunkt geben: Der als Kind aus Mexiko nach Kalifornien eingewanderte Manuel „Manny“ Torres (Diego Calva) wurde damit beauftragt, einen ausgewachsenen Elefanten heranzuschaffen, der dann später in der Nacht gemeinsam mit den anderen Gästen das Tanzbein schwingen soll. Offensichtlich gibt es keine Champagneridee, die hier nicht sofort in die Tat umgesetzt wird.

    Ebenfalls anwesend sind Jack Conrad (Brad Pitt), der höchstbezahlte Schauspieler Hollywoods, der allerdings nur in einem banalen Kostümschinken nach dem anderen auftritt, sowie die aus Jersey stammende Nellie LaRoy (Margot Robbie), die zwar noch nie eine Rolle hatte, sich aber trotzdem absolut sicher ist, ein Star zu sein. Nachdem der Elefant als Ablenkungsmanöver zweckentfremdet wurde, um eine nach einer Überdosis bewusstlose Jungschauspielerin ungesehen aus dem Haus schaffen zu können, geht es am nächsten Morgen pünktlich zurück ans Filmset – und dort geht es kein Stück weniger irre zu wie in der drogengetränkten Nacht zuvor…

    Los geht’s mit einem dicken fetten Haufen

    Es dauert nicht lange, bis sich ein Teil des Publikums fragen wird, ob es nicht vielleicht doch im falschen Saal gelandet ist. Statt mit einer glitzernden Party startet „Babylon“ nämlich mit Mannys Vorhaben, einen Elefanten in einem Pferdeanhänger einen steilen Anstieg hinaufzuschaffen. Der verzweifelte Versuch führt allerdings nur dazu, dass der gestresste Dickhäuter einen fetten und unangenehm flüssigen Haufen auf die beiden Anschieber hinter dem Laster setzt. Das hätte man so wohl eher in einer derben Jim-Carrey-Comedy aus den 1990ern erwartet – und trotzdem ist selbst die Elefantenscheiße hier nur der Anfang und nicht etwa der frühe Höhepunkt des „schlechten“ Geschmacks.

    Der Film heißt zwar „Babylon“, aber die eröffnende Party erinnert trotzdem eher an Sodom und Gomorra: Mitten auf der Tanzfläche kopulieren nackte Körper, ein junges Starlett pinkelt auf einen superfetten Studiochef, einem Mann wird eine Champagnerflasche in den Allerwertesten geschoben – und mittendrin Jack Conrad im perfekt sitzenden Smoking, der mit seiner unbeeindruckten Art klarmacht, dass das alles für ihn offensichtlich auch nur ein ganz normaler Dienstag ist. Und tatsächlich sind viele der Ausschweifung ganz nah dran an den Schilderungen aus dem 1959 veröffentlichten, zwischenzeitig verbotenen Kult-Sachbuch „Hollywood Babylon“ von Avantgarde-Filmer Kenneth Anger. Zusätzlich befeuert wird der gnadenlos-treibende Leinwandrausch konstant durch den kongenialen, Golden-Globe-prämierten Jazz-Score von Chazelles Stamm-Komponisten Justin Hurwitz („Whiplash“). Bloß das Luft holen nicht vergessen!

    Seriöses Treiben am Filmset? Das wirkt nur so.

    Es ist erstaunlich, wie lang Chazelle dieses waghalsige Tempo angesichts der stolzen Laufzeit von mehr als drei Stunden durchhält. Bei der Schilderung der Set-Geschehnisse am nächsten Tag geht er nicht etwa vom Gas, sondern setzt im Gegenteil sogar noch einen drauf: Während der inzwischen zum persönlichen Assistenten beförderte Manny einen Aufstand der wütenden Statisten nur verhindern kann, indem er sie schießend auf einem Pferd reitend auseinandertreibt, schlagen sich die offensichtlich nicht als Stuntmen ausgebildeten Teilnehmer an einer historischen Schlacht tatsächlich gegenseitig die Schädel ein – und am Ende liegt einer von ihnen tot im Staub, sein Oberkörper durchbohrt von einer Fahne. „Babylon“ ist auch überraschend lustig.

    Es wirkt fast, als hätten die Irren das Irrenhaus übernommen. Damien Chazelle inszeniert den Stummfilmdreh als Ausdruck absoluter Freiheit – und zwar in jedweder Hinsicht. Natürlich steht man solch ein rauschhaftes Treiben, das am ehesten noch an einen der Anarcho-Cartoons von Tex Avery erinnert, selbst nur im Rausch durch – und so kauft sich selbst der sechsjährige Kinderstar ganz selbstverständlich eine Tüte Erdnüsse, von denen alle wissen, dass in den Hülsenfrüchten rosafarbene Aufputschpillen versteckt sind. Eine Story im klassischen Sinne gibt es in „Babylon“ (sehr) lange Zeit nicht, stattdessen liefert Chazelle eine ausufernde Momentaufnahme einer kurzen Ära, in der alle ging und alles musste.

    Vom Tonfilm an die Leine gelegt

    Mit dem Aufkommen des Tonfilms wird dann alles anders. Mit der Freiheit ist es dahin, wenn man ganz genau seine Markierungen treffen muss, damit die Mikros das Gesagte auch aufnehmen können. Am Set herrscht längst nicht mehr das Chaos, sondern absolute Ruhe – die Kameras werden sogar buchstäblich eingesperrt, in brütend heiße Holzverschläge, weil das Scheppern der Filmrollen ansonsten die Tonspur ruinieren würde. Zudem gibt es plötzlich immer mehr Regeln, was gesagt und was gezeigt werden darf. Man wird in vielfacher Hinsicht an die Leine gelegt – und wer das nicht abkann, der wird an dieser Zeit zwangsläufig zerbrechen.

    Wie in jedem Drogenfilm kommt nach dem rauschhaften Hoch irgendwann der unaufhaltsame Abstieg – und dieser Teil von „Babylon“ ist dann auch der konventionellste, weshalb sich die finale Stunde des Films durchaus ein wenig hinzieht. Was übrigens nicht heißt, dass es mit den Ausschweifungen vorbei wäre, sie sind nur in den Untergrund verdrängt, in einen Tunnel, der „das Arschloch von L.A.“ genannt wird, und in dem ein aschfahler Tobey Maguire als Absinth-Mephisto eine Freak Show samt (nur zwischenzeitig) an die Leine gelegtem Krokodil befehligt. Selbst wenn man glaubt, sich jetzt so langsam im Film zurechtgefunden zu haben, bleibt „Babylon“ eben konsequent der pure Wahnsinn – hin zu einer atemberaubenden Bilderrauschreise nicht nur bis zum Mond, sondern gleich bis nach Pandora…

    Fazit: Zum Glück kein erlesenes Oscar-Kino, sondern ein absolut hemmungsloser Rausch, der sein atemloses Tempo zumindest die ersten zwei Stunden lang gnadenlos durchzieht und einem beachtlichen Teil des Publikums dabei mit seinen krassen Derbheiten massiv vor den Kopf stoßen wird. Es spricht viel dafür, dass „Babylon – Rausch der Ekstase“ zwar an den Kinokassen floppen, dafür aber in 20 Jahren als Kultfilm mit einer beachtlichen Portion Glitter-Camp abgefeiert wird!

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