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    In Liebe lassen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    In Liebe lassen

    Fast schon zu realistisch schmerzhaft

    Von Nikolas Masin

    Filme haben mitunter die Tendenz, den Tod zu romantisieren und das Sterben unrealistisch rasch abzuhandeln. Man kennt die klischeehaften Szenen, in denen eine sterbende Person noch einen letzten bedeutungsschweren Satz sagt und direkt im Anschluss tot wegknickt. So ein Film ist „In Liebe lassen“ definitiv nicht. Im Guten wie im Schlechten geht Emmanuelle Bercot („Madame empfiehlt sich“) in ihrem Drama keinerlei Kompromisse ein: Man wird aus der üblichen Komfortzone gerissen und mit all den steinigen Unsauberkeiten des Sterbens sowie dessen Sinnlosigkeit und Willkür konfrontiert.

    Der 40-jährige Schauspiellehrer und Einzelgänger Benjamin (Benoit Magimel) hat Krebs und nur noch ein Jahr zu leben. Eine Diagnose, die seine Mutter Crystal (Catherine Deneuve) besonders schwer trifft. Und auch Benjamin selbst kann sein Schicksal nur schwer akzeptieren, weil er sich als Versager fühlt, der keine bleibenden Spuren hinterlassen wird. Sein Arzt Dr. Eddé (Gabriel Sara) und die Krankenschwester Eugénie (Cécile de France) stehen den beiden auf einfühlsame Weise zur Seite und helfen dabei, alte zwischenmenschliche Wunden zu heilen. Unter anderem gibt es da einen Sohn im Ausland, zu dem Benjamin schon vor vielen Jahren den Kontakt abgebrochen hat...

    Mutter Crystal (Catherine Deneuve) ist immer für ihren todkranken Sohn da.

    Für die beiden Hauptrollen hat Regisseurin Emmanuelle Bercot zwei Bekannte aus ihren früheren Filmen zurückgebracht. Die Mutter-Sohn-Dynamik zwischen Benoit Magimel („Ein leichtes Mädchen“) und Catherine Deneuve („La Vérité – Leben und lügen lassen“) ist natürlich, filigran, leise – es besticht eine faszinierende Selbstverständlichkeit, ein ganz beiläufiger Umgang. Die holprige gemeinsame Vergangenheit der beiden ist im Mienenspiel stets zu spüren, auch wenn kaum etwas tatsächlich ausgesprochen wird. Da fügt sich auch der Laiendarsteller Gabriel Sara, der im „echten“ Leben tatsächlich als Onkologe tätig ist, ganz unscheinbar als Dr. Eddé ein. Sein warmherziges, aber durchaus kantigeres Spiel passt perfekt zu diesem Arzt, der die professionelle Distanz verhältnismäßig klein hält und einen menschlichen Draht zu seinen Patient*innen aufbaut.

    Dr. Eddé schafft sich für alle Krebsleidenden eine Krawatte mit deren jeweiligen Lieblingsmotiv an. Mit solchen kleinen Gesten bemüht er sich um etwas Aufmunterung. Für das Personal hat er einen Treff ins Leben gerufen, wo sich die Kolleg*innen mentale Unterstützung bekommen. Dr. Eddé ist aber auch eine Figur, die keine Krankheit beschönigt und mit jedem einen direkten Umgang pflegt. Eines seiner vielen Mantras lautet: Den Patient*innen Empathie zeigen - aber nur so viel, dass nicht plötzlich das Pflegepersonal getröstet werden muss (statt umgekehrt). Kurzum: Dr. Eddé ist ein Anker auch für das Publikum. Seine besondere, reflektierte Perspektive auf die Dinge regt zum Nachdenken an und bleibt hängen.

    Trost war noch nie so facettenreich

    Trost ist ein allgegenwärtiges Thema in „In Liebe lassen“ und wird von Benjamins Umfeld auf ganz unterschiedliche Weise gespendet: Seine ihm Mut zusprechende, aber auch überfürsorgliche Mutter ist zwar immer an seiner Seite, kann sich der Realität aber selbst nicht so recht stellen. Eine Benjamin nahestehende Schülerin kann ihren Gefühlen nur Ausdruck verleihen, indem sie mit ihm eine emotionale Szene aus „Ein Sommernachtstraum“ durchspielt – und Benjamins Sohn ist zwar noch nicht bereit, seinem entfremdeten Vater gegenüberzutreten, weiß aber trotzdem, ihm anderweitig beizustehen.

    Benjamin selbst verarbeitet seinen kommenden Tod auf die einzige Weise, mit der er sich zu helfen weiß: In der wohl eindringlichsten Szene des Films lässt er seine Schauspieler*innen verschiedene Szenarien eines dramatischen Abschieds durchspielen. Die intime Handkamera klebt dicht an den schmerzverzerrten Gesichtern und sich chaotisch windenden Gliedmaßen – und wenn das Szenario nicht seinen Vorstellungen entspricht, nicht tragisch genug ist, dann wird der sonst so in sich gekehrte Benjamin plötzlich laut.

    Gabriel Sara ist nicht nur auch im wahren Leben ein Krebsarzt - er hat seine Erfahrungen auch für das Drehbuch zur Verfügung gestellt.

    Hier kommt nämlich seine größte Angst zum Vorschein: Dass er niemanden hat, dem er wichtig ist. Dass keiner um ihn trauern wird. Dass er der Welt keinen Mehrwert hinterlassen wird. Nachvollziehbar ist das allerdings nicht so wirklich, hat er doch vor sich eine ganze Klasse von Schauspielschüler*innen, die ihm eine perspektivreiche Karriere verdanken, ein offensichtlich enges Verhältnis zu ihm haben und bestürzt über seinen Zustand sind, sobald sie davon erfahren. Hinzu kommt, dass er für einen völligen Einzelgänger, als den ihn der Film darzustellen versucht, doch recht viel Krankenhausbesuch empfängt. Ob dies nun eine beabsichtigte Charakterschwäche ist oder nicht: Es nimmt dem Thema des „allein sterbenden Einzelgängers“ ein wenig die Schlagkraft.

    Zu viel des "Schlechten"

    Selbst das Pflegepersonal ist von Benjamins Fall überdurchschnittlich gerührt und nicht jeder kann Dr. Eddés Empathie-Code gerecht werden. Sogar eine kleine, recht undurchsichtige Romanze entwickelt sich - wobei unklar bleibt, inwiefern hier Mitleid eine Rolle spielt. Und da liegt das größte Problem des Films: Nicht nur ist diese an Kitsch grenzende Liebelei unsauber schnell erzählt und daher recht unglaubwürdig, auch macht sich spätestens hier das Gefühl breit, dass man sich mit der Menge an Nebenhandlungen schlicht übernommen hat.

    Andererseits sind es auch genau diese erzählerischen Ausreißer, die dafür sorgen, dass überhaupt etwas Greifbares passiert. Denn „In Liebe lassen“ ist vor allem ein zutiefst nachdenklicher Film. Ein Film, der mehr als zwei Stunden lang den so schleichenden wie qualvollen körperlichen und geistigen Zerfall einer Person begleitet – und dabei überaus deutlich macht: Krebs ist keine glatte Angelegenheit. Es ist nichts, dass sich einfach so in die gängigen dramaturgischen, möglichst mundgerechten Plot-Stücke untergliedern lässt.

    Wenn es für Benjamin (Benoit Magimel) zu Ende geht, wird in "In Liebe lassen" nichts beschönigt.

    Größtenteils wird deshalb richtungslos philosophiert und zunehmend schwermütiger in die Leere geblickt, während man verzweifelt auf das Unvermeidbare wartet. Es ist spürbar, dass der Dr.-Eddé-Darsteller Gabriel Sara als erfahrener Mediziner auch eine beratende Funktion beim Skript innehatte: Der Krankheitsverlauf wird gnadenlos ehrlich durchgespielt – ein respektables Anliegen, das in jeder Szene für sich auch beeindruckt und ergreift. Doch im Gesamtkontext – und da besonders im letzten Filmdrittel und Spätstadium des Krebses – führt das zu einer nahezu folternden, erstickenden Atmosphäre, die gefühlt einfach nicht enden will. So ist „In Liebe lassen“ zwar maximal ehrlich, aber erfordert weit mehr als bloß die übliche „dicke Haut“.

    Fazit: „In Liebe lassen“ ist das Gegenteil von einem Film, der Alltagssorgen vergessen lässt. Wer aber mit der rigoros-wirklichkeitsnahen Darstellung einer Krebserkrankung umzugehen weiß, auf den wartet ein einnehmendes, unkonventionelles Drama mit schauspielerischen Meisterleistungen (und ein paar Nebenhandlungssträngen zu viel).

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