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    Doch das Böse gibt es nicht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Doch das Böse gibt es nicht

    Anklage und Liebeserklärung

    Von Björn Becher

    Auf internationalen Filmfestivals, vor allem in Cannes, werden seine Filme wie zuletzt „A Man Of Integrity“ regelmäßig ausgezeichnet. In seiner Heimat Iran sind die Werke von Mohammad Rasoulof dagegen offiziell nicht zu sehen. Dort hat der Regisseur in seiner Karriere schon alles erlebt - er saß im Gefängnis, stand unter Hausarrest und er durfte auch nun erneut nicht ausreisen, um seinen erneut vielfältige moralische Dilemmata auslotenden Episodenfilm „Doch das Böse gibt es nicht“ bei seiner Weltpremiere im Berlinale-Wettbewerb (wo es anschließend auch die Auszeichnung mit dem Goldenen Bären gab) zu präsentieren. Trotzdem ist sein Film nicht nur eine (mitunter etwas oberflächliche) Anklage an das System, sondern erstaunlicherweise auch eine berührende Liebeserklärung an sein Heimatland dessen Bewohner.

    Iranische Landschaft.

    Doch das Böse gibt es nicht“ besteht aus vier Geschichten, wobei die Auftaktepisode denselben Titel wie der Film an sich trägt: Eine dreiköpfige Familie verbringt einen ganz normalen Tag mit Einkaufen im Supermarkt, Besuch bei der Oma, Abendessen im Fast-Food-Restaurant. Aber in der Nacht muss Vater Heshmat (Ehsan Mirhosseini) wieder zu seiner Arbeit gehen… In „Sie sagte: Du schaffst es!“ diskutieren Wehrdienstleistende die Nacht durch. Pouya (Kaveh Ahangar) hat den Befehl erhalten, am nächsten Morgen an einer Exekution mitzuwirken. Dabei hat er sich und seiner Freundin geschworen, auf keinen Fall einen Menschen zu töten…

    Geburtstag“ heißt die dritte Erzählung. Der Wehrpflichtige Javad (Mohammad Valizadegan) hat ein paar Tage freibekommen, um seine Freundin Nana (Mahtab Servati) an ihrem Geburtstag zu besuchen. Aber dafür musste er einen hohen Preis bezahlen, auch wenn ihm selbst das noch gar nicht bewusst ist… In „Küss mich“ besucht schließlich die in Deutschland lebende Studentin Darya (Baran Rasoulof) nicht ganz freiwillig die iranische Heimat ihres Vaters. Sie ist bei den ganz ohne Internet oder Telefon auf dem Land lebenden Bahram (Mohammad Seddighimehr) und Zaman (Jila Shahi) einquartiert. Ihr Gastgeber hat ihr offensichtlich etwas sehr Wichtiges zu sagen, findet aber einfach nicht den richtigen Zeitpunkt…

    Achtung: In den nächsten beiden Absätzen folgt ein für diese Besprechung wichtiger SPOILER zur ersten Episode, deren Auflösung verraten wird.

    Mit der titelgebenden Auftaktepisode legt Mohammad Rasoulof das Fundament für seinen Film. In langen, teils starren Einstellungen zeigt er das vermeintlich banale Leben einer Kleinfamilie, um dann mit einem Schockmoment zu enden. Der Vater geht zur Arbeit, er hat wie so oft die Nachtschicht. Wo er ist, was er macht, ist nicht genau zu erkennen. In einer Kammer bereitet er sich ein Frühstück. Als die Kontrollleuchten an der Wand auf grün springen, drückt er einen Knopf – und wir erfahren, was er ist, nämlich ein Henker. Im Nebenraum baumeln die Körper der gerade Gehängten, von denen wir nur die zappelnden Beine sehen. An einigen läuft der Urin aus den Blasen herunter, die sich im Moment des Todes entleert haben.

    Die Auftaktepisode ist voll und ganz auf diesen einen Schockmoment ausgelegt. Wir sollen uns mit Heshmat, diesem gemütlich-netten, wenn auch mal motzenden Mann und Vater, „anfreunden“, um dann umso schockierter davon zu sein, dass er derart teilnahmslos tötet. Aber wer nun befürchtet, dass Rasoulof diesen „billigen“ Trick einfach noch drei weitere Male wiederholt, den können wir beruhigen. Der Auftakt dient vor allem dazu, das Motiv einzuführen, denn um Henker und das Vollstrecken von Todesurteilen geht es am Ende in allen Geschichten. Und auch wenn jede Erzählung eine zentrale Wendung beinhalten, ist die Wirkung dieser „Twists“ gar nicht mehr das Entscheidende.

    Darya kommt in ein für sie fremdes Land.

    In der zweiten Geschichte ist schnell klar, dass Pouya ein Todesurteil vollstrecken soll, den „Hocker wegziehen muss“, wie immer wieder etwas euphemistisch gesagt wird. Er versucht alles, um die Aufgabe loszuwerden. Aber wenn er schließlich einen radikalen Entschluss fasst, setzt Rasoulof nicht auf einen Schockmoment, sondern stößt uns plötzlich mitten hinein in einen effektiv inszenierten Thriller, nur um diesen dann am Ende mit dem mehr als 100 Jahre alten Gassenhit „Bella Ciao“ in ein schwungvolles Plädoyer für die Kraft der Liebe kippen zu lassen.

    Die im Iran existierende Todesstrafe spielt die zentrale Rolle in „Doch das Böse gibt es nicht“. Nicht nur haben viele der Protagonisten direkt mit ihr zu tun, es wird auch darüber geredet. „Was für ein Unmensch kann jemanden hinrichten?“, wird einmal gefragt. Eine Sichtweise, die von der in Deutschland lebenden Darya (gespielt von der in Deutschland lebenden Tochter des Regisseurs) in den Film getragen wird. „Das gehört eben dazu“ oder „Das ist nun mal das Gesetz“ sagt dagegen eine iranische Figur – denn wer sich weigert, „den Hocker wegzuziehen“, der wird vermutlich demnächst selbst auf einem solchen stehen.

    Kein eindeutiges richtig oder falsch

    Rasoulof macht das System verantwortlich – und zugleich deutlich, dass das Mitwirken eine Gewissensfrage bleibt, die für jeden einzelnen unglaublich schwierig und komplex zu beantworten ist. Eine Gewissensfrage, die auch niemand von außen beantworten kann, der nicht selbst in genau dieser Situation steckt. Durch die Kürze der vier Geschichten bleibt schon gar nicht genug Zeit, um aufzuarbeiten, wie eine Person um ihre persönliche Antwort auf diese Frage ringt. Eine filmische Aufarbeitung des Entscheidungsprozesses wäre ohnehin nur wieder ein weiterer Blick von außen – und der ergibt wie gesagt nur wenig Sinn. Stattdessen handeln die Geschichte von denjenigen, die sie schon gefällt haben und nun mit den Konsequenzen leben müssen.

    Eine richtige Entscheidung. Statt sich weiter auf Wendungen zu verlassen, handeln gerade die dritte und vierte Geschichte von Menschen, ihren Hoffnungen und Ängsten. Und von dem Land. In der finalen Episode kommt nicht zufällig eine Person von außen in den Iran. Gemeinsam mit Darya entdeckt auch der Zuschauer das iranische Hinterland. Mit dem Jeep geht es durch die bergige Landschaft und die kahle Wüste. Wenn man nicht wüsste, was Rasoulof in seiner Karriere schon durchgemacht hat, könnte man fast auf die Idee kommen, er wolle Werbung für die Tourismusbehörde des Iran machen, schließlich gab es vorher auch schon grandiose Aufnahmen der bergigen Wälder und von Teheran bei Nacht.

    Hoher Einsatz

    Trotz der knallharten Kritik am System ist „Doch das Böse gibt es nicht“ so auch eine Liebeserklärung an das Land Iran. Immer wieder wird der Regisseur gefragt, warum er 2017 zurückkehrte, nachdem er zu den Filmfestspielen nach Cannes reisen durfte. Er hätte schließlich in Europa bleiben und arbeiten können. Doch Rasoulof glaubt, dass Weglaufen nicht helfen würde – um zu kritisieren, muss er auch vor Ort sein, zudem sei es nun einmal seine Heimat. Es sei der Preis, den er für Veränderung zahlen müsse, sagte er 2019 der ZEIT. Und Teil dieses Veränderungswunsches ist auch, dem Rest der Welt zu zeigen, welche schöne Seiten der Iran hat.

    Es passt daher, dass Rasoulofs Film immer wieder unglaublich schön aussieht. Wie auch sein Freund und Kollege Jafar Panahi hat er es schwer, Drehgenehmigungen zu bekommen. Iranische Filmemacher behelfen sich deswegen oft damit, heimlich im Auto zu filmen: Eine fest montierte Kamera blickt in den Innenraum, eine weitere nimmt die Perspektive des Fahrers ein, die Umwelt bekommt davon nichts mit. Panahi hat mit „Taxi Teheran“ einen ganzen Film auf diese Art gemacht und der ebenfalls in der Großstadt spielende Auftakt besteht auch aus vielen Szenen, bei denen sich genau diese zwei Kameraperspektiven abwechseln.

    Doch Rasoulof löst sich nach und nach von diesen starren Perspektiven – auch mit Hilfe eines Tricks: Wissend, dass er keine Genehmigung bekommen würde, meldete er den Film nicht an, sondern ließ stattdessen vier Assistenten vier separate Kurzfilme anmelden. Bei denen schauen die Behörden nicht so genau hin wie bei einem Kinofilm. So konnte offener gedreht werden, was natürlich ganz andere Freiheiten für Kamerabewegungen und -positionen eröffnete. Bei den in der Natur spielenden Episoden konnte der Regisseur auch selbst ans Set kommen, was sich ebenfalls auf die Bildvielfalt auswirkt. Was die Veröffentlichung des auf diese Weise ohne Genehmigung entstandenen „Doch das Böse gibt es nicht“ unterdessen für Rasoulofs Zukunft und Freiheit bedeutet, wird sich hingegen erst noch zeigen.

    Fazit: In vier Episoden widmet sich Mohammad Rasoulof der Todesstrafe – und zwar aus der Perspektive derjenigen, die sie vollstrecken (sollen). Das ist mal ein Schlag in die Magengrube, mal ein Thriller, mal ein Drama vor der bildgewaltigen Naturschönheit des Iran – und zwar immer mit der Gewissheit, dass man dem Thema eigentlich gar nicht abschließend gerecht werden kann.

    Wir haben „Doch das Böse gibt es nicht“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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