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    Holy Spider
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Holy Spider

    Der noch größere Horror folgt erst nach der Festnahme

    Von Christoph Petersen

    Der in Teheran aufgewachsene Ali Abbasi hat sich gleich mit seinem zweiten Spielfilm, dem skandinavischen Arthouse-Horror-Hit „Border“, auch international einen solchen Namen gemacht, dass er inzwischen als Regisseur für einige Episoden der heißerwarteten Videospiel-Serienadaption „The Last Of Us“ angeheuert wurde. Aber davor hat er es nun erstmals in den Offiziellen Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes geschafft – und zwar mit seinem ersten Film, der in seinem Geburtsland Iran spielt. Lose basierend auf einem realen Kriminalfall aus den Jahren 2000 – 2001, erzählt Abbasi in seinem Noir-artigen Thriller „Holy Spider“ von der Jagd der engagierten Journalistin Rahimi (mit einem ansteckenden Selbstbewusstsein: Zar Amir-Ebrahimi) auf den vielfachen Frauenmörder Saeed (Mehdi Bajestani), der die Straßen der Heiligen Stadt Mashhad im Namen Gottes von allen „korrupten Frauen“ reinwaschen will.

    Die ersten zwei Drittel des Films entpuppen sich dabei zwar als durch und durch klassischer Serienkiller-Thriller, wie man ihn aus Hollywood schon viele hundert Male gesehen hat. Allerdings ist dieser schauspielerisch, atmosphärisch und inszenatorisch wirklich hervorragend umgesetzt: Wenn Saeed sein erstes Opfer am Rande einer Vorortstraße „entsorgt“, zieht die Kamera danach so auf, dass am Horizont langsam die nächtliche Stadt auftaucht – und sich dort mit ihren beleuchteten Verkehrsadern tatsächlich wie eine „heilige Spinne“ breitmacht. Der eingestreute schwarze Humor, etwa wenn ein robusteres Opfer zunächst gar nicht mitbekommt, dass Saeed sie gerade zu erwürgen versucht, wiegt einen dabei nur kurz in Sicherheit, bevor einem die nächste der sehr persönlich und brutal umgesetzten Mordszenen erneut mächtig an die Nieren geht.

    Rahimi (Zar Amir-Ebrahimi) geht auch persönliche extreme Risiken ein, um den Täter endlich zur Strecke zu bringen.

    Dass sich der Film trotz der Vertrautheit der genretypischen Abläufe erstaunlich frisch anfühlt, liegt dabei natürlich wenig überraschend an seinem Setting: So beginnt „Holy Spider“ mit Bildern einer jungen alleinerziehenden Mutter, die sich auf ihren Job als Sexarbeiterin vorbereitet – und das in einem Land, in dem die Moralpolizei streng darauf achtet, dass nicht einmal der Haaransatz unter dem Kopftuch zu sehen ist. Auch die #MeToo-Momente, die Rahimi bei ihrem Kampf für Gerechtigkeit fast zwangsläufig erlebt, wenn sie etwa von einem zunächst noch hilfsbereiten Polizisten in ihrem Hotelzimmer bedrängt wird oder nach einem abgeblockten Annäherungsversuch ihres Chefredakteurs ihren Job verliert, entwickeln vor dem Hintergrund einer ganz besonders patriarchalischen Gesellschaft noch mal einen besonderen Punch.

    Dass wir den Mörder Saeed zwischendurch sehen, wie er liebevoll mit seinen Kindern spielt oder von seiner Frau die Meinung gegeigt bekommt, ist ebenfalls längst ein Standard des Genres. Trotzdem entwickelt Mehdi Bajestani als Kriegsveteran, der damit hadert, dass er nicht wie viele seiner Freunde an der Front als Märtyrer ums Leben kam, weshalb er sich nun im „heiligen Krieg gegen das Unreine“ auf den Straßen Mashhads opfern will, eine bemerkenswert-ungemütliche Präsenz. So richtig, richtig böse wird „Holy Spider“ allerdings erstaunlicherweise erst nach der Festnahme des Täters …

    Saeed (Mehdi Bajestani) hat fast 20 Frauen brutal ermordet - und glaubt selbst trotzdem, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen.

    Achtung: Spoiler! … dann gibt es nämlich eine Gerichtsverhandlung, deren offener Ausgang nichts damit zu tun hat, ob Saeed die Taten nun nachgewiesen werden können oder nicht, sondern vielmehr damit, ob es nicht irgendwie auch verständlich und okay ist, dass er als Mann Gottes Sexarbeiterinnen umbringt. Ganz nach dem Motto: Wenn sich die Polizei nicht effektiv genug um die Angelegenheit kümmert, dann muss es eben jemand anderes tun. Seine Familienangehörigen bekommen plötzlich im Supermarkt Lebensmittel geschenkt und vor dem Gerichtsgebäude versammeln sich die Protestler, die für seine Freilassung kämpfen.

    Da bereitet man sich als Zuschauer*in schon auf den finalen Schlag in die Magengrube vor – und den will Ali Abbasi gerade mit den finalen Szenen seines Films auch landen. Allerdings geht er dabei wenig subtil zur Sache: Wenn Saeeds nicht ganz so heller Teenager-Sohn der Presse voller Stolz und mit seiner kichernden kleinen Schwester als Vorführobjekt zeigt, wie sein Vater all diese Frauen umgebracht hat, dann sollte einem mit Blick auf die Zukunft (nicht nur dieser) Gesellschaft eigentlich Angst und Bange werden. Zugleich ist der Moment aber derart plakativ in Szene gesetzt, dass der angestrebte Wirkungstreffer zumindest teilweise direkt wieder verpufft.

    Fazit: Ein handwerklich starker True-Crime-Thriller, der zwar all die üblichen Elemente des Genres abklappert, dabei aber vor allem aufgrund seines ungewohnten Settings jederzeit frisch wirkt. Gegen Ende, wenn die Erzählung erst so richtig finster wird, geht Ali Abbasi allerdings derart plakativ zur Sache, dass seine Inszenierung die Schlag-in-die-Magengrube-Wirkung des Stoffes eher abmildert als verstärkt.

    Wir haben „Holy Spider“ beim Cannes Filmfestival 2022 gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs gezeigt und mit dem Preis für die Beste Darstellerin für Zar Amir-Ebrahimi ausgezeichnet wurde.

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