Menschliche Tragödien rund um eine Bombe
Von Lutz GranertEtwa 250.000 Blindgänger liegen heute noch unerkannt im Boden Deutschlands und kommen oftmals erst in der Vorbereitung von Bauprojekten zum Vorschein. Obwohl der Zweite Weltkrieg, in dem die bislang noch nicht oder nicht vollständig detonierten Fliegerbomben von den Alliierten abgeworfen wurden, schon seit 80 Jahren vorbei ist, geht von ihnen nach wie vor eine große Gefahr aus – besonders wenn sie Langzeitzünder aufweisen. So sorgte am 01. Juni 2010 die Detonation einer US-amerikanischen Bombe in Göttingen für tragische Schlagzeilen – drei Mitarbeiter im Umfeld des Kampfmittelbeseitigungsdiensts, der gerade die Entschärfung vorbereitete, kamen dabei ums Leben, zwei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Zum Zeitpunkt der Explosion gegen 21.30 Uhr war die Evakuierung von insgesamt 7.200 Menschen des betroffenen Stadtteils im 1.000-Meter-Umkreis rund um den Fundort noch nicht abgeschlossen…
Als Metapher für tief unter der Oberfläche lauernde Verletzungen und verdrängte Traumata, die eine Vielzahl von Menschen betreffen und nur durch ein helfendes und unterstützendes Miteinander überwunden werden können, will Regisseurin und Drehbuchautorin Kerstin Polte („Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“) diese Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs in ihrem Drama verstanden wissen. „Blindgänger“ ist durch eine Vielzahl dargestellter Gender, Herkünfte und Altersgruppen in zahlreichen Richtungen anschlussfähig und lief deshalb auf einem Dutzend (teils thematisch spezialisierter) deutscher Filmfestivals. Das spürbare, zuweilen etwas krampfhafte Bemühen um perspektivische Vielfalt führt in dem in bewegenden Episoden erzählten Film jedoch hin und wieder zu einigen argen Konstruiertheiten.
Bei Bauarbeiten im Hamburger Schanzenviertel wird eine 1000-Pfund-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Für die Entschärfung rückt der Kampfmittelbeseitigungsdienst an: Der erfahrene Otto Bismarck (Bernhard Schütz), der beim Arzt gerade eine niederschmetternde Diagnose erhalten hat, und seine Kollegin Lane (Anne Ratte-Polle) treffen mit ihrem Team die notwendigen Vorbereitungen für die kontrollierte Sprengung am nächsten Tag. Doch der läuft anders als geplant: Otto erfährt, dass seine Frau Hanne (Claudia Michelsen) eine Affäre mit einem Jahrzehnte jüngeren Lehrerkollegen hat und streift daraufhin ziellos durch die Stadt. Dabei trifft er auf den Reisebüro-Angestellten und Travestiekünstler Viktor Knigge (Karl Markovics). Viktors afghanischer Mitbewohner Junis Nerwa (Ivar Wafaei) lässt sich ebenso wenig evakuieren wie die von den Bomben des Zweiten Weltkriegs traumatisierte Nachbarin Margit Petersen (Barbara Nüsse) – während ihre ebenfalls an einer Angststörung leidende Tochter Lane unter dem auf ihr lastenden Druck zusammenzubrechen droht…
Filmemacherin Kerstin Polte wählte für „Blindgänger“ eine multiperspektivische, queere Erzählweise, in der – so das Presseheft – jeder Figur ein eigener Raum und eine eigene Stimme gegeben wird. Tatsächlich wird Gleichberechtigung und Vielfalt in ihrem Ensemblefilm nicht nur bei den Produktionsumständen (allen Darsteller*innen wurden Einheitsgagen gezahlt) großgeschrieben. Auch unter den Figuren tummelt sich eine Vielzahl von gesellschaftlich marginalisierten Personengruppen, die jedoch teils etwas plump und überladen Einzug in den Film gehalten haben, als wäre eine Checkliste abgearbeitet worden.
Die Episode um das Kennenlernen von Otto und Viktor wiederum wirkt dabei besonders unglaubwürdig konstruiert: Beide treffen sich durch Zufall wegen eines Kaninchens im Schaufenster und verschwinden nach mehreren gemeinsamen Stunden (!) im Reisebüro in den Katakomben der „Prinzenbar“, wo sie beim gemeinsamen Schminken in andere Identitäten schlüpfen – während in Viktors Zuhause Margit und Junis mit Perücken kindlich herumalbern. Der Österreicher Karl Markovics (zuletzt in „Das Licht“ im Kino zu sehen) sorgt als hemdsärmliger Chaot dann auch für die witzigsten Momente, wenn er beim Eintreffen zweier kabbelnder Polizeibeamter improvisieren und die versteckte Margit schützen muss.
Diese auflockernde Leichtigkeit braucht es aber auch in diesem ebenso herzerwärmenden wie aufwühlenden Film mit Charakteren im emotionalen Ausnahmezustand. In seinen besten Momenten – bei der virtuosen dramatischen Zuspitzung der parallel erzählten Episoden und dem Einsatz zärtlicher Popsongs beim Heranfahren an die Figuren in ihren einsamsten Momenten – erinnert „Blindgänger“ mit seiner großen Empathie für seine starken Charaktere gar an das episodenhafte Meisterwerk „Magnolia“ (1999) von Paul Thomas Anderson.
Besonders berührend gerät eine Szene im Waschraum einer Turnhalle, als die mit Kopfhörern, im Schlabberlook und sonst meist mit Null-Bock-Attitüde auftretende Psychologin Ava Shabani (Haley Louise Jones) die hyperventilierende und sexuell dem weiblichen Geschlecht zugewandte Lana mit einer Umarmung und ruhigem Zusprechen von Mut wieder aufbaut. Das ist bewegender und emotionaler als die am Ende durch einen einsetzenden Sturm und Regen stark dramatisierte Bombenentschärfung in düsteren Bildern, welche die titelgebende Metapher ums stille Lauern verborgener Gefahren dann wieder in die konkrete Bedeutung des Wortes übersetzt.
Fazit: Auch wenn eine gewisse Agenda zu möglichst bunter Vielfalt bei den Figuren etwas übergestülpt wirkt, berührt und bewegt „Blindgänger“ tief. Einfühlsam und aufwühlend gelingt es Filmemacherin Kerstin Polte, in den Episoden ihres virtuos montierten Dramas für mehr menschliche Wärme und Solidarität zu sensibilisieren.