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    Passagiere der Nacht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Passagiere der Nacht

    Die Hoffnung hinter dem Schmerz

    Von Jochen Werner

    Ob sie oft ins Kino gehe, wird die 18-jährige Ausreißerin Talulah (Noée Abita) einmal gefragt – und zunächst sagt das obdachlose Mädchen ja, vor allem, wenn es draußen kalt sei. Dann gerät sie aber ins Stocken und korrigiert sich, denn eigentlich habe sich das mit der Zeit doch geändert. Im Kino, da könne man sich so gut selbst verlieren, das mache so etwas mit einem, das … Es folgen einige Sekunden Schweigen, Talulah wird den Satz nicht zu Ende sprechen. Ihr fehlen die Worte, um die Magie dessen zu beschreiben, was sie im Kino erlebt hat – aber das macht nichts, denn wir verstehen sie in diesem Moment ganz genau… Der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „The Passengers Of The Night“ von Mikhaël Hers gehört zu dieser ganz besonderen Art von Filmen, in denen man sich völlig verlieren kann und von denen man sich im Grunde wünscht, sie mögen niemals zu Ende gehen. Ein Film, den man nicht schauen, sondern den man bewohnen möchte.

    Er beginnt mit einer Feier auf den Straßen von Paris – aber es geht nicht etwa um ein Fußballspiel, sondern – auch wenn man sich eine derart öffentliche Ausgelassenheit heute kaum noch in Verbindung mit einem politischen Ereignis vorstellen kann – um die Wahl des Sozialisten François Mitterand zum französischen Präsidenten. Hers inszeniert seinen Film als Period Piece, das uns in drei Etappen durch die Pariser 80er-Jahre führt. Dieser Prolog spielt im Jahr 1981, der erste längere Teil dann drei Jahre später – datiert auch durch das Kino als das Jahr, in dem man sich heimlich ins Kino schleichen und bei dem Versuch, „Gremlins“ zu sehen, stattdessen in „Vollmondnächte“ von Éric Rohmer landen konnte – es ist jener Film, bei dessen Beschreibung Talulah die Worte abhandenkamen.

    Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) findet Erfüllung in ihrem neuen Job bei einer Radiosendung, die den einsamen Seelen von Paris durch die dunkle Nacht hilft.

    „The Passengers Of The Night“ ist aber auch ein Radiofilm, denn als ein weiterer roter Faden durch die Erzählstränge und die Jahre spannt sich hier die titelgebende nächtliche Talkradiosendung der Moderatorin Vanda Dorval (Emmanuelle Béart). Ursprünglich an Lastwagenfahrer auf langen nächtlichen Autofahrten gerichtet, wie wir ganz nebenbei einmal erfahren, spricht Vanda längst zu all den schlaflosen Seelen da draußen – und bewegt sie dazu, sie anzurufen und ihr ihre eigenen Geschichten anzuvertrauen. Élisabeth (Charlotte Gainsbourg), nach einer Brustkrebserkrankung und einer Mastektomie frisch getrennt und alleinerziehende Mutter zweier Kinder, ist zunächst nur eine dieser Nachtgestalten, die bei Vanda und den Geschichten ihrer Hörer*innen Trost und Halt suchen. Als sie als Telefonistin für die Sendung zu arbeiten beginnt, nimmt allerdings auch ihr Leben eine neue Richtung.

    Gleich bei einer ihrer ersten Aufnahmen lernt Élisabeth die obdachlose Talulah kennen und nimmt sie kurzentschlossen mit zu sich nach Hause, wo sie fortan eine leerstehende Kammer bewohnt. Zwischen Talulah und Élisabeths Sohn Matthias (Quito Rayon Richter) beginnt eine Romanze, die Talulah jedoch so viel Angst einjagt, dass sie nach der ersten gemeinsamen Nacht ohne ein Wort wieder verschwindet. Der Film springt dann erneut drei Jahre in die Zukunft – und auch dieser letzte Abschnitt, der wieder mit einer Präsidentschaftswahl endet, wird neue Anfänge ebenso wie Abschiede oder Wiederbegegnungen mit bis dato Unabgeschlossenem mit sich bringen.

    Vollmondnächte …

    Die explizite Heraufbeschwörung von Eric Rohmer als eine Art Schutzheiliger für „The Passengers Of The Night“ erschließt sich unmittelbar, denn seit dem Tod des großen französischen Meisterregisseurs kommen einem nur wenige Filme in den Sinn, die das ganze Spektrum der menschlichen Emotion so umfassend abzubilden suchen wie die von Mikhaël Hers. So viel ist über seine Werke noch nicht gesprochen worden, obgleich Hers bereits seit Mitte der Nullerjahre eine ganze Reihe von schönen, schwelgerischen und durch und durch nostalgischen Mood Pieces – zuerst halblang, dann auch im klassisch abendfüllenden Kinoformat – gedreht hat.

    Nun ist ja Nostalgie stets ein zweischneidiges Schwert, beschreibt sie doch letztlich die Sehnsucht nach einer Zeit, die es so wie erinnert nie gegeben hat. Ein nostalgischer Blick zurück meint aber nicht nur eine Verklärung der Vergangenheit, sondern auch die Akzeptanz, dass das, wonach das eigene Verlangen strebt, auf immer unerreichbar ist. Es ist eine machtvolle Sehnsucht nach dem, was immer schon von vornherein verloren ist. Das macht sie zu einem so schmerzlichen Gefühl.

    … voller Melancholie

    Entziehen kann sich ihr im Kosmos von Mikhaël Hers' Filmen gleichwohl niemand – die melancholischen Protagonist*innen ebenso wenig wie wir, die melancholischen Zuschauer*innen. Trotzdem handelt es sich, ebenso wie bei den Werken Rohmers, keinesfalls um allzu traurige, pessimistische Filme. Eher wirken sie tröstlich, insofern sie all den Schmerz, die fortwährenden Trennungen, Abschiede und Brüche anerkennen und trotzdem hartnäckig darauf beharren, dass es immer wieder neue Anfänge geben wird.

    Das Leben ist unendlich kompliziert und wird, je länger es fortschreitet, niemals einfacher, wir werden unzählige Fehler machen und immer wieder Verluste erfahren. Die Zeit mag uns manchmal endlos erscheinen und die Lage hoffnungslos, aber das ist sie tatsächlich nie und etwas Neues kann und wird sich auftun. Das war schon das zentrale Versprechen eigentlich aller Filme des großen, weltlichen, erwachsenen Romantikers Éric Rohmer, an das sein Erbe im Geiste Mikhaël Hers nun anknüpft – und gerade heute brauchen wir mehr Filme, die uns das vermitteln.

    Fazit: Bisher ist der französische Regisseur Mikhaël Hers höchstens eingefleischten Cinephilen ein Begriff. An diesem Nischendasein ändert „The Passengers Of The Night“ nun hoffentlich etwas, denn mit seinem bereits siebten Film ist Hers ein ganz großer Wurf gelungen. Als ein Erbe des großen Meisterregisseurs Éric Rohmer erzählt Hers auf so ergreifende wie elegante Weise vom ganzen Spektrum der menschlichen Gefühle, vom Verlieben und Sichtrennen, von Verlust und Neubeginn – und über allem steht die unerschütterliche Überzeugung, dass nichts je wirklich hoffnungslos ist.

    Wir haben „The Passengers Of The Night“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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