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    Sonne und Beton
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Sonne und Beton

    Der Romanerfolg von Felix Lobrecht - stark fürs Kino adaptiert

    Von Lars-Christian Daniels

    Wallah, ich schwör, ich fick‘ seine Mutter, ja!“ – In seinem viel gelobten Bestseller „Sonne und Beton“ brachte Stand-Up-Comedian, Schriftsteller und Podcaster Felix Lobrecht („Gemischtes Hack“) 2018 seine eigenen Erlebnisse als Heranwachsender in der Berliner Gropiusstadt zu Papier. Sein bemerkenswerter Roman fing nicht nur die von Armut, Gewalt und Tristesse geprägte Lebensrealität, sondern auch den Jugendslang im Neuköllner Problemkiez wunderbar authentisch ein.

    Dieser durchaus anstrengende „Sprech“ bleibt in der Verfilmung des Stoffs natürlich 1:1 erhalten und auch sonst dürften sich Liebhaber des Romans darin wiederfinden: Lobrecht hat mit Regisseur David Wnendt („Feuchtgebiete“) auch das Drehbuch zu seiner tollen Leinwandadaption geschrieben, wobei sie sich eng an die literarische Vorlage halten. Dem Unterhaltungswert tut das unheimlich gut: „Sonne und Beton“ ist deutsches Genrekino mit Herz und hat als Kreuzung aus beinharter Milieustudie, heiterem Heist-Movie und fiebrigem Brennpunkt-Thriller das Potenzial zum Kultfilm.

    Mit seinen drei Kumpels fasst Lukas einen Plan, um schnell an Geld zu kommen.

    Neukölln im Hitze-Rekord-Sommer 2003: Die Teenager Lukas (Levy Rico Arcos), Gino (Rafael Luis Klein-Heßling) und Julius (Vincent Wiemer) wachsen in der Gropiusstadt auf. Zu Hause und in der Schule wartet nur Stress auf die Jungs und fürs Schwimmbad haben sie kein Geld, weil ja auch noch die Drogen finanziert werden müssen. Als sie bei ihrem Dealer Cem (Lucio101) Gras kaufen wollen, geraten sie im Park an eine rivalisierende Gang: Lukas, der bei seinem Vater Matthias (Jörg Hartmann) lebt, trägt nach der wilden Prügelei schmerzhafte Blessuren davon und steht prompt mit 500 Euro bei den „Arabs“ in der Kreide. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen?

    Gemeinsam mit ihrem neuen Klassenkameraden Sanchez (Aaron Maldonado-Morales), der gerade mit seiner Mutter (Franziska Wulf) in die Gropiusstadt gezogen ist, schmieden die Rumtreiber einen gefährlichen Plan: Weil ihre Schule unter Leitung des Rektors Schiezeth (Bernd Grawert) neue Computer bekommen hat, brechen sie nachts dort ein, um die Geräte zu klauen und weiterzuverticken. Das gestaltet sich allerdings unerwartet kompliziert – und schon bald ist die folgenreiche Aktion Gesprächsthema Nr. 1…

    Die Verfilmung bietet sogar mehr als das Buch

    Die Leinwandadaption von „Sonne und Beton“ startet mit einem schriftlichen Hinweis: „Es war alles genau so. Vielleicht aber auch nicht.“ Im Roman wie im Film verschmelzen also autobiografische mit fiktiven Erlebnissen. Welche Teile der Geschichte wahr und welche erfunden sind, erfahren wir nicht – und das ist sicher ganz gut so. „Viele Sachen […] habe ich eins zu eins selbst erlebt. Genauso viele Sachen sind aber auch frei erfunden. Ich habe immer offengelassen, was wahr ist und was nicht“, äußert sich der frühere Poetry-Slammer Felix Lobrecht im Presseheft.

    Meist können Adaptionen aufgrund der begrenzten Spielzeit die erzählerische Tiefe des literarischen Stoffes nicht erreichen. Doch daraus resultierende Unschärfen sind in „Sonne und Beton“ nicht spürbar. Ganz im Gegenteil: Wnendt und Lobrecht nehmen sich sogar die Zeit, die Leerstellen des gut 200 Seiten starken Romans sinnvoll aufzufüllen (etwa eine verpatzte Geldübergabe oder einen Besuch im Krankenhaus). Der Stoff gewinnt dadurch eine neue, bittersüße Schlusspointe und einige Nebencharaktere erhalten mehr Background: Wir sind in Ginos Elternhaus dabei, wenn sein Alkoholiker-Vater (herrlich abgefuckt: David Scheller) im Suff die Gattin vertrimmt oder sich der nach einer Schlägerei gehandicapte Drogendealer Djamel (Wael Alkhatib) mit Gipsarm vor seiner besorgten Mutter und seinem strebsamen Bruder rechtfertigen muss.

    Lukas bleibt auch im Film die Hauptfigur – aber wir erfahren mehr über Nebenfiguren als in der Romanvorlage.

    Mit Roman-Ich-Erzähler Lukas, der ohne Mutter in der Gropiusstadt aufwächst, bleibt die wichtige Identifikationsfigur natürlich trotzdem erhalten. Über ihn erfahren wir entsprechend am meisten – über die Probleme mit seinem alleinerziehenden Vater, die schwierige Beziehung zu seinem kriminellen Vorbild und Bruder Marco (Rapper Luvre47) oder den wichtigen Austausch mit dem verbitterten Vertrauenslehrer Sonnabend (Leon Ullrich), der das Talent in dem Teenager erkennt. Anders als die anderen Schüler hat er Lukas noch nicht aufgegeben. Oder um mal ein berühmtes Zitat der „Simpsons“ zu bemühen: Lukas ist wie eine Blume, die aus einem Misthaufen wächst.

    Der Misthaufen ist hier die Gropiusstadt, in der die Frustration und die Perspektivlosigkeit der gesellschaftlich Abgehängten jederzeit greifbar werden. Der Film filetiert dieses Milieu förmlich – in der versifften Wohnung von Julius‘ Bruder Adi (Gerdy Zint), bei der Begegnung mit Obdachlosen oder dem Streifzug an der Seite des vermeintlich allseits respektierten Bruders Marco („Ich hab hier hinter jeden Baum gekackt!“). Serienperlen wie „4 Blocks“ oder ihr ebenfalls sehenswerter Ableger „Para“ haben das große Potenzial der Berliner Brennpunkte zuletzt für sich entdeckt, Bettina Blümner fing es bereits 2007 in ihrem großartigen Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad“ ein. Auch „Sonne und Beton“ fühlt sich trotz der ausrechenbaren Dramaturgie wegen der brutal realistischen Bilder und dem authentischen Slang stellenweise fast dokumentarisch an.

    Ein Cast direkt aus dem Kiez

    Viele Rapper haben das Lebensgefühl der „Unterschicht“ nach der Jahrtausendwende thematisiert; nicht von ungefähr wummern zu den wackeligen und schnell geschnitten Bildern explizite Tracks von Aggro Berlin oder Alles ist die Sekte. Auch vor der Kamera geben sich Rapper die Klinke in die Hand: Neben Lucio101 und Luvre47, der selbst in der Gropiusstadt aufwuchs, ist etwa Olexesh in einer Nebenrolle dabei und gibt dem Affen ordentlich Zucker. Hunderte Komparsen, die im Abspann alle (!) namentlich genannt werden, fand man bei Streetcastings in Neukölln. Und die vier Hauptdarsteller, die ihre Sache hervorragend machen, mussten sich erst einmal gegen 5.000 Konkurrenten durchsetzen. Nicht zuletzt ihnen ist es zu verdanken, dass sich der temporeiche Film so faszinierend echt anfühlt und nicht nur Menschen abholen dürfte, die selbst in einer schwierigen sozialen Umgebung groß geworden sind.

    Fazit: „Sonne und Beton“ wird dem Hype gerecht, der nach dem Erfolg des Romans auch im Vorfeld der Verfilmung so groß ist, dass die gesamte Kinotour zum Start innerhalb von Stunden ausverkauft war. „Feuchtgebiete“-Regisseur David Wnendt legt gekonnt einen Berliner Brennpunkt unters Brennglas. Sein „Sonne und Beton“ überzeugt als authentisches Genrekino, wie man es hierzulande nur selten sieht.

    Wir haben „Sonne und Beton“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.

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