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    Nitram
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Nitram

    Ein Amoklauf mit 35 Toten braucht keine simplen Antworten

    Von Michael Meyns

    Nicht nur in Amerika sind die Waffengesetze lax, auch in Australien nahm man es diesbezüglich lange Zeit nicht so eng. So war es zumindest bis zu den Ereignissen, die Regisseur Justin Kurzel, der in „Die Morde von Snowtown“ schon mal einen realen Kriminalfall verfilmt hat, in seinem ruhigen Drama „Nitram“ beschreibt. Erst 1996, nach dem schlimmsten Amoklauf der australischen Geschichte, bei dem 35 Menschen ums Leben kamen, wurden die Gesetze zum Erwerb von Waffen verschärft. Was genau den Täter antrieb, kann man nur vermutet. In der eindringlichen Performance von Caleb Landry Jones ist er jedenfalls ein etwas sonderbarer, leicht zurückgebliebener Mann, der eigentlich nach Halt sucht, aber stattdessen nur immer mehr abdriftet. Eine abschließende Erklärung sollte man darin nicht erkennen, vielmehr das pragmatische Beschreiben einer unvorstellbaren Tat.

    Er ist zwar schon erwachsen, aber Martin Bryant (Caleb Landry Jones) lebt trotzdem noch bei seinen Eltern (Anthony LaPaglia, Judy Davis). „Nitram“ wird er abfällig gerufen, als etwas langsam galt er schon in der Schule, bevor er sie ganz abbrach. Mit Gelegenheitsarbeiten verdient er sich ein paar Dollar und so trifft er an einem schicksalshaften Tag auch die deutlich ältere Helen (Essie Davis), eine ehemalige Sängerin, die allein mit vielen Hunden in einem abgelegene Haus lebt. Sie findet einen Draht zu dem eigenbrötlerischen jungen Mann – der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft, die bald durch einen von Martin verursachten Unfall jäh beendet wird. Helen ist tot, aber sie hat Martin ihr Vermögen hinterlassen. Doch auch das Leben in Saus und Braus macht Martin nicht glücklich. Im Gegenteil: Das viel Geld ermöglicht es ihm, sich mit vollautomatischen Waffen auszurüsten…

    Mit seiner Hauptrolle in "Nitram" könnte Caleb Landry Jones endlich der verdiente Durchbruch zum Star gelingen.

    Schon als Junge spielte Martin gerne mit Feuer, was ihm sogar eine gewisse lokale Prominenz verschaffte: Nach einem Unfall mit Feuerwerk wird er im Krankenhaus interviewt. Ob er aus dem Fehler nicht gelernt habe, fragt die Journalistin, doch Martin grinst nur und meint, er werde trotzdem weiter mit Knallern spielen. Gut 20 Jahre später – Justin Kurzel bleibt bei den Details von Zeit und Ort bewusst vage – ist Martin erwachsen, zumindest äußerlich. Mit seinen langen, ungepflegten Haaren, dem labbrigen Wollpullover, den er ständig trägt und der gerade an den Stränden Australien fehl am Platz wirkt, macht Martin aber eher den Eindruck eines großen Kindes.

    Freunde hat Martin nicht. Nähert er sich jemandem wie dem Surfer-Boy Jamie (Sean Keenan), wird er nur ausgenutzt und veralbert. Allein sein Vater steht ihm nahe, doch nach dem gescheiterten Versuch, ein Haus am Meer zu kaufen, verfällt er wie sein bereits mit Medikamenten behandelter Sohn in Depressionen. Ganz nebenbei streut Justin Kurzel solche Informationen ein, doch mehr als Andeutungen sind sie nicht. „Nitram“ ist kein psychologisierendes Drama, in dem eine extreme Tat durch dieses schlimme Kindheitserlebnis oder jenes tragische Ereignisse hübsch sauber erklärt wird. Die Wirklichkeit ist meist schmutziger und komplexer, die Ursachen für einen Massenmord lassen sich praktisch nie darauf reduzieren, dass jemand ein paar Horrorfilme zu viel geschaut oder die Nächte mit Ego-Shootern verbracht hat, auch wenn das manche Boulevardmedien gerne so hätten.

    Nicht der eine Grund

    In dieser Haltung erinnert „Nitram“ an Gus Van Sants preisgekröntes Schulmassaker-Drama „Elephant“, das bewusst jede Menge „Erklärungen“ anbietet und sie dabei doch nur in ihrer Banalität entlarvt. Justin Kurzel hält es ähnlich, wenn er das Leben von Martin Bryant in fast dokumentarischer Genauigkeit beobachtet, einzelne zugespitzte Momente zeigt, in denen zumindest zu ahnen ist, wie sehr es in Martin brodelt. Im Gegensatz zu seiner exaltierten Shakespeare-Verfilmung „Macbeth“ oder auch dem Aussie-Breitwand-Western „Outlaws – Die wahre Geschichte der Kelly Gang“ hält sich Kurzel in „Nitram“ stilistisch komplett zurück. Pragmatismus herrscht vor und auch das Massaker selbst findet komplett außerhalb der Leinwand statt.

    Diese Entscheidung zur Zurückhaltung funktioniert auch dank des herausragenden Hauptdarstellers Caleb Landry Jones so gut. Meist sind seine Augen hinter den strähnigen Haaren kaum zu erkennen, sein Kopf gebeugt, sein Wesen unruhig. Nur in wenigen Momenten, vor allem wenn er in Helen für kurze Zeit einen Menschen findet, der ihn so akzeptiert wie er ist, findet diese verlorene Gestalt für Momente zur Ruhe. Der in Texas geborene Jones war in hochkarätigen Nebenrollen schon in „Get Out“ und „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ zu sehen und könnte mit „Nitram“ nun seinen großen Durchbruch erleben. Justin Kurzel bestätigt mit diesem dichten, genau beobachteten Drama unterdessen seinen Ruf als einer der interessantesten Regisseure Australiens. Es ist höchste Zeit, seinen „Assassin’s Creed“-Ausrutscher endgültig zu vergessen.

    Fazit: Mit einer zurückhaltenden Inszenierung und einem herausragenden Hauptdarsteller zeichnet „Nitram“ das Leben eines Massenmörders nach. Gerade weil er nichts abschließend oder simpel erklärt, kommt Justin Kurzel der Psyche seines Protagonisten so erschreckend nahe.

    Wir haben „Nitram“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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