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    Das Glücksrad
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Das Glücksrad

    Mitreißende Offenheit

    Von Jochen Werner

    Der erste Bezugspunkt, der uns Zuschauer*innen zu Beginn von Regisseur und Drehbuchautor Ryusuke Hamaguchi an die Hand gegeben wird, ist kein filmischer, sondern ein literarischer: „Ryusuke Hamaguchi's Short Stories“ steht dort eingeblendet, noch vor dem eigentlichen Titel „Das Glücksrad“. Das weckt natürlich sofort gewisse Erwartungen: Denn der Begriff „Short Stories“ bezeichnet ja nicht nur lapidar die Länge eines literarischen Werks, sondern verlangt in der Regel auch nach einer bestimmten Form der poetischen Verdichtung.

    Wirklich gute „Short Stories“ erschöpfen sich dabei selten in der Vorbereitung einer Schlusspointe, als seien sie bloß ein etwas längerer Witz. Stattdessen erreichen sie auch auf wenigen Seiten eine Offenheit, die der Ambivalenz, der Epiphanie, eben alldem, was sich nicht so einfach auserzählen lässt, Raum schafft. Dasselbe gilt für wirklich gute Kurzfilme – wobei es sich um solche bei den drei Episoden aus dem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Das Glücksrad“ genau genommen gar nicht handelt, sondern eher um drei Teile eines Triptychons, die zwar nebeneinander angeordnet sind, sich in ihrer Gesamtheit aber trotzdem gegenseitig bedingen und ergänzen.

    Nao versucht, den Literaturprofessor Segawa zu verführen - zunächst noch mit finsteren Absichten...

    Die erste Episode „Magic (or something less assuring)“ beginnt betont leichtfüßig mit einer Taxifahrt durch das nächtliche Tokyo, auf der Tsugumi (Hyunri) ihrer Freundin und Kollegin Meiko (Kotone Furukawa) sehr ausführlich und begeistert von einem Date mit einem Mann erzählt. Zu diesem Zeitpunkt hat man als Zuschauer*in allerdings noch nicht durchschaut, dass man bei „Das Glücksrad“ immer dann besonders auf der Hut sein sollte, wenn sich der Film gerade besonders „leicht“ anfühlt. Ryusuke Hamaguchi überrascht sein Publikum nämlich immer wieder mit einer gewissen abgründigen Gemeinheit.

    So erkennt Meiko ziemlich bald ihren Exfreund Kazu (Ayumu Nakajima) in der Geschichte, den sie damals gleich wiederholt betrogen hat. Meiko erwähnt diese gemeinsame Vorgeschichte gegenüber ihrer Freundin nicht, überfällt Kazu jedoch noch in derselben Nacht an seinem Arbeitsplatz. Es entbrennt ein mit durchaus harten Bandagen geführter Kampf um verletzte Eitelkeiten und verdrängte Gefühle. Sowohl Meiko als auch Kazu müssen am Ende Entscheidungen treffen, von denen uns Hamaguchi gleich verschiedene Varianten anbietet, indem er eine Szene einfach mehrfach in leicht abgewandelter Form zeigt.

    Nicht nur aufgrund dieser spiegelnden Wiederholung, auch bei anderen formalem Mittel erinnert „Das Glücksrad“ recht deutlich an das verspielte, ebenfalls immer wieder neue Varianten derselben Konstellationen durchspielende Kino des koreanischen Festival-Lieblings Hong Sang-Soo („The Woman Who Ran“), der in diesem Jahr mit „Introduction“ ebenfalls um den Goldenen Bären der Berlinale konkurriert. Allerdings wirken die emotionalen Schattierungen bei Hamaguchi dann doch noch mal anders, dunkler und irgendwie auch brutaler als in Hongs Filmen, die ihre Traurigkeit oft eher unter einer Schicht von Melancholie und Humor verstecken.

    Berührender Twist, böser Twist

    Die zweite Episode, „Door Wide Open“ beginnt direkt mit einem perfiden Plan, in dessen Verlauf es dann jedoch mehr als nur eine unerwartete Wendung gibt: Die verheirate Studentin Nao (Katsuki Mori) lässt sich von ihrer heimlichen Affäre Sasaki (Shouma Kai) einspannen, um sich an seinem früheren Professor Segawa (Kiyohiko Shibukawa), der soeben mit einem prestigereichen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, zu rächen. Mit einer lasziven Lesung einer ausführlichen Romanpassage aus dem ausgezeichneten Roman, in der es explizit um Intimrasur und Oralsex geht, soll Segawa verführt und zu einem verbotenen Seitensprung verleitet werden. Die Dinge laufen jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht nicht wie geplant – und eine Kette von Wendungen und Zufällen wird im abschließenden Epilog nur einen triumphierenden Gewinner aus dem intriganten Drei- (oder Vier-)Eck hervorgehen lassen.

    In gewisser Hinsicht wirkt dieser Mittelteil wie die klassischste unter den drei Episoden, insofern sie mit einem Plot-Twist (der an dieser Stelle natürlich nicht gespoilert werden soll) auf ein überraschendes Ende zusteuert. Die Ambivalenz, auf die Hamaguchi hier hinauswill, ist dabei weniger auf einer erzählerischen als vielmehr auf einer moralischen Ebene verortet: Die verbotene Affäre zwischen Nao und Sasaki, der boshafte Plan gegen Segawa, der auf unerwartete und durchaus berührende Weise schiefzugehen scheint, und der abschließende Zeitsprung nebst dem Zählen der Verluste für alle Beteiligten, räumen auf unerwartete Weise, aber ziemlich nachhaltig mit der Annahme auf, dass der Zufall den Gerechten helfen könnte.

    Zwei Frauen meinen in der anderen jeweils eine alte Schulfreundin zu erkennen - bis sie erst nach einem ziemlich intimen Gespräch erkennen, dass sie sich in Wahrheit noch nie gesehen haben.

    Der dritte und letzte Teil „Once Again“ greift das Moment der Dopplung und Spiegelung wieder auf, das schon am Ende der ersten Episode eine Rolle spielte, indem er es direkt zu seinem narrativen Prinzip erklärt: Zwei ehemalige Schulfreundinnen treffen sich zufällig auf zwei nicht zufällig in entgegengesetzte Richtungen fahrenden Rolltreppen wieder und stellen erst nach einiger gemeinsam verbrachter Zeit fest, dass sie sich gegenseitig verwechselt haben und sich eigentlich überhaupt nicht kennen.

    Gleichwohl, oder gerade deshalb, beschließen sie, sich wechselseitig eine Art Lebensbeichte vorzutragen und für die Dauer derselben jeweils in die Rolle der Abwesenden zu schlüpfen – also jenen Menschen, die in ihren Leben „ein Loch hinterlassen haben, das niemand füllen kann“. So lassen sie sich auf eine temporäre Gemeinschaft, ein zeitlich begrenztes Spiel ein, das gerade dadurch, dass es zwingend ohne Konsequenzen bleiben muss, von einem tatsächlich unstillbaren Schmerz kündet, der lange über den Abspann hinaus wirkt.

    Das Internet wird abgeschaltet

    Insbesondere in dieser dritten Episode erreicht Ryusuke Hamaguchi eine mitreißende Offenheit. Nicht nur in der von Verwechslungen und Spiegelungen geprägten Erzählung bleibt manches ambivalent und letztlich offen, auch ein seltsamer Science-Fiction-Kontext blitzt plötzlich auf, ohne jemals handlungsrelevant zu werden: „Once Again“ spielt in einer nahen Zukunft, in der nach einer Virusattacke samt allumfassendem Datenleak das Internet komplett abgeschaltet werden musste. Eine der Frauen hat so zwar ihren Job als IT-Expertin verloren, aber für die Begegnung der beiden fremden Freundinnen hat das keinerlei konkrete Konsequenzen.

    Was dieser allumfassende Bruch von Heimlichkeit und Privatheit für die zwischenmenschlichen Beziehungen für Folgen hat (es wurden auch sämtliche E-Mails geleakt, weshalb man nun alle Korrespondenz von Freunden und Familien durchforsten kann), erzählt Hamaguchi nicht aus, er bietet es lediglich als ein spannendes Denkexperiment zur weiteren Kontextualisierung von Erzähltem und wohl vor allem Unerzähltem an.

    Fazit: In drei Kurzgeschichten lotet Ryusuke Hamaguchi extreme Gefühlslagen aus. Dabei legt er weniger Wert darauf, seine Konflikte restlos auszuerzählen – stattdessen erzeugt er mit Mut zur Offenheit einen Überschuss an Ambivalenz, der lang nachwirkt. Ein intensiver, beeindruckender Film.

    Wir haben „Das Glücksrad“ im Rahmen der Berlinale 2021 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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