Mein Konto
    Die Purpursegel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Die Purpursegel

    Kann ein Film zu schön sein?

    Von Michael Meyns

    Phantastisches und Magisches gab es auch schon in den ersten beiden Spielfilmen von Pietro Marcellos, aber noch nie war der italienische Regisseur dem Märchen so nah wie nun in „Das Purpursegel“. In den Jahren zwischen den Weltkriegen spielt seine Fabel, die vom Schicksal eines schönen Mädchens erzählt, dem von einer Hexe prophezeit wird, irgendwann einmal von Purpursegeln davongetragen zu werden. Wie schon in seiner großartigen Jack-London-Verfilmung „Martin Eden“ verwendet Marcello auch diesmal Archivaufnahmen, um das fiktive Geschehen in den Lauf der Realität einzubetten, allerdings mit deutlich geringerem Erfolg. So bezaubernd die Bildern, so schön einzelne Szenen: Die Mischung aus Kitsch und Realismus überzeugt nur in einzelnen Momenten.

    Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kehrt Raphaël (Raphaël Thiéry) in sein Heimatdorf in der Normandie zurück. Erst jetzt erfährt er, dass seine Frau während der Geburt ihres Kindes gestorben ist. Das Kind, Juliette, wächst seitdem bei Adeline (Noémie Lvovsky) auf, die auch Raphaël ein zu Hause gibt. Abseits der Dorfgemeinschaft leben sie in einer platonischen Beziehung, Juliette (Juliette Jouan) wächst zu einer unabhängigen, schönen Frau heran, die kaum wahrnimmt, welchen Effekt sie auf die Männer des Dorfes hat. Viel lieber verbringt sie ihre Zeit mit Musik, Gedichten und dem Traum vom Fliegen, den ihr die „Hexe“ (Yolande Moreau) des Dorfes eingegeben hat. Und da fällt er auch vom Himmel, ihr Prinz mit den Purpurflügeln, in Gestalt des Piloten Jean (Louis Garrel), mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre beginnt…

    Juliette (Juliette Jouan) steht mit ihrem Wesen in einem harschen Kontrast zu der harschen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

    Wir müssen die so genannten Wunder mit eigenen Händen vollbringen“, heißt es zu Beginn des Films – ein Zitat des hierzulande wenig bekannten russischen Autors Alexander Grin, dessen Roman „Das Purpursegel“ Pietro Marcello als lose Vorlage diente. Die so markanten Hände von Raphaël Thiéry sind es dann auch, die die ersten Minuten dominieren: Grobe, wulstige Pranken, die augenscheinlich viel erlebt und viel gearbeitet haben. Mit diesen Händen versucht Raphaël, sich und seiner Tochter ein Leben in dem kleinen Dorf zu bauen, ein Leben abseits der Dorfgemeinschaft, die das Duo aus Gründen schneidet, die sich nur langsam offenbaren. Doch während Raphaël sich zunehmend zurückzieht, weil seine Zweifel am Guten im Menschen unüberwindlich werden, könnte das Gemüt seiner Tochter nicht sonniger sein. Spätestens wenn Juliette älter wird und fortan von der Newcomerin Juliette Jouan gespielt wird, verschiebt sich der Blick des Films endgültig auf sie – und damit wird ein zuvor noch entfernt sozialrealistischer Film zunehmend zum Märchen.

    Kameramann Marco Graziaplena hat auf körnigem 16mm-Material gedreht, das den ohnehin lichtdurchfluteten, farbgesättigten Bildern eine zusätzliche magische Qualität verleiht. Atemberaubend schön sind einzelne Bilder, wenn Juliette am See singt, auf dessen Wasseroberfläche sich das Licht spiegelt. Aber wenn sie da weltvergessen vor sich hin summt, als ob sie nichts im Sinn hätte als ihren von der „Hexe“ angekündigten Prinzen, dann ist das immer auch nah am Kitsch. Natürlich gibt es schlimmere Dinge, als außerordentlich attraktiven Schauspieler*innen wie Juliette Jouan oder Louis Garrel dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig anschmachten, während im Hintergrund die Sonne untergeht und dazu emotionale Musik von Gabrial Yared spielt.

    Wie die „Hexe“ (Yolande Moreau) ihr prophezeit hat: Juliette wird irgendwann tatsächlich von purpurnen Flügel davongetragen…

    Auf Dauer reicht solch pure Ästhetik allerdings nicht aus, da würde es mehr Substanz benötigen, um selbst über eine kurze Länge von nur 100 Minuten zu fesseln. So hervorragend es Marcello in „Martin Eden“ noch gelang, von einer faszinierenden Figur zu erzählen, die mit sich und den Zeitumständen ringt, so wenig schafft er es in „Das Purpursegel“, die einzelnen Elemente seines Films zu einem großen Ganzen zu formen. Der an sich spannende und vielversprechende Kontrast zwischen rauen, brutalen Elementen, dem Ende des Krieges und seinen Folgen, inneren und äußeren Wunden, Vergewaltigung und andere Formen des Missbrauchs, sowie dem zarten, ätherischen, von Schönheit und Kunst geprägte Wesen Juliettes, bleibt genau das: ein Kontrast. Ob das eine das andere bedingt, die Umstände Juliette erst zu dem gemacht haben, was sie ist, bleibt wie so vieles unbestimmt. Mit zunehmender Dauer zerfällt „Das Purpursegel“ immer mehr in seine – fraglos oft atemberaubend schönen – Einzelteile.

    Fazit: Atemberaubende hübsche Bilder ziehen sich durch Pietro Marcellos „Das Purpursegel“, der vom Leben und Aufwachsen einer Frau in den Jahren zwischen den Kriegen erzählt. Doch mit zunehmender Länge wirkt die Mischung aus Realismus und Märchen, aus Authentizität und Kitsch unbefriedigend und verliert sich so zunehmend in der eigenen Schönheit.

    Wir haben „Das Purpursegel“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er in der Sektion Directors‘ Fortnight gezeigt wurde.

     

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top