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    La Chimera
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    La Chimera

    Die abstrakte Arthouse-Antwort auf Indiana Jones

    Von Michael Meyns

    In einer Welt des magischen Realismus siedelt die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher, die nach „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazarro“ mit „La Chimera“ bereits zum dritten Mal in Folge im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes vertreten war, ihre Werke an. Eine lose Trilogie bilden diese drei Filme, verbunden auch durch ihren Schauplatz Etrurien (auch Rohrwachers Herkunft), vor allem aber durch ihren speziellen Blick auf Außenseiter*innen der Gesellschaft: Magier*innen, Zirkusleute, Vagabunden oder in diesem Fall eine Gruppe Tombaroli: Grabräuber, die nach Relikten der Vergangenheit suchen. So wie auch Arthur, die Hauptfigur, als Engländer in Italien ein doppelter Außenseiter, um den herum Rohrwacher ein assoziatives Geflecht spinnt, das oft fasziniert, am Ende aber nicht ganz so zwingend zusammenkommt wie in ihren früheren Filmen.

    Anfang der 1980er Jahre sitzt Arthur (Josh O’Connor) im Zug in seine Wahlheimat. Im Schatten der Stadtmauer einer antiken Stadt lebt er in einer Baracke, sein heller Anzug ist eigentlich viel zu leicht für das Wetter im winterlichen Italien, doch noch mehr als die Kälte schmerzt ihn der Verlust seiner großen Liebe Beniamina. Diese war die Tochter der eleganten Gräfin Flora (Isabella Rossellini), die mit einer Gruppe Frauen, darunter Italia (Carol Duarte), in einem verfallenden Palast lebt. Arthur besitzt eine spezielle Gabe: Mittels einer Wünschelrute ist er in der Lage, unterirdische Grabkammern zu finden, in denen die Etrusker, die Ahnen der modernen Italiener, einst ihre Toten bestattet haben. Doch Arthur sucht nicht nach wertvollen Grabbeigaben, sondern nach dem mythischen Tor in die Unterwelt, denn er hofft, Beniamina auch nach ihrem Abbleben doch noch wiederzufinden…

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    „The Crown“-Star Josh O’Connor wirkt im „La Chimera“, auch dank der grandiosen Kameraarbeit von , endgültig wie ein kommender Kinostar.

    Alice Rohrwacher wurde 1981 in der Nähe von Florenz geboren und wuchs deshalb mit den Geschichten über die Tombaroli. Es sind Grabräuber, die sich des Nachts auf die Suche nach verborgenen Schätzen machten, dabei die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten durchbrachen und in manchen Fällen durch Funde wertvoller Skulpturen oder Vasen sogar zu erheblichem Wohlstand kamen. Legal war das natürlich nicht, welche Schätze den Museen durch Grabräuber*innen entzogen wurden, wird für immer ein Rätsel bleiben. Die Faszination, die Rohrwacher für die Tombaroli zeigt, ist also ambivalent und wird dadurch gebrochen, dass ihre Hauptfigur zwar selbst kein richtiger Grabräuber ist, aber eine Fähigkeit besitzt, die ihn zum idealen Komplizen macht.

    Aus England kommt Arthur, vielleicht auch aus Irland – über seine Herkunft wird jedenfalls spekuliert, in seinem hellen, leicht ranzigen Anzug strahlt er zwar eine gewisse Eleganz aus, wirkt zugleich aber auch verlebt, zu Beginn des Film wurde er gerade aus dem Gefängnis entlassen. Gespielt wird er vom britischen Schauspieler Josh O’Connor, vor allem bekannt für seine Darstellung des Prinz Charles in „The Crown“. Schon in dem Netflix-Hit überzeugte er durch eine Mischung aus Neugier und Traurigkeit, jungenhaftem Charm, der immer wieder einem gewissen Weltschmerz wich. Fast schlafwandlerisch bewegt er sich nun durch „La Chimera“, ein altgriechisches Wort, das zum einen ein mythologisches Mischwesen bezeichnet, aber auch ein Hirngespinst, eine Illusion.

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    „La Chimera“ ist auch eine Hommage an Alice Rohrwachers Heimat Etrurien.

    Einen weiteren Hinweis zur Interpretation liefert Rohrwacher mit dem schönen Plakat zu ihrem Film, auf dem eine Variante der Tarotkarte des Gehängten zu sehen ist: der kopfüber aufgehängte Mann ist unschwer als Arthur zu erkennen! Unterschiedliche Lesarten gibt es zu dieser Figur, mal wird sie als Judas oder als Verräter betrachtet, mal als Sehender, der die Fähigkeit besitzt, die Welt aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. In einigen der stärksten Momente des Films bezieht sich Rohrwacher direkt auf dieses Bild: Einmal mehr ist es ihre langjährige Kamerafrau Hélène Louvart, die atemberaubende, impressionistische, wie dahingeworfene Bilder findet, in denen Arthur mit der Wünschelrute in der Hand durch die Landschaft taumelt und nach einem verborgenen Grab sucht, bis sich die Kamera plötzlich auf den Kopf stellt und die Welt aus den Fugen gerät.

    Eine spezielle Verbindung zum Tod besitzt Arthur, die auch durch einen roten Faden visualisiert wird, der immer wieder auftaucht: An den legendären Faden der Ariadne mag man hier denken, der ihr den Ausweg aus dem Labyrinth des Minotaurus wies. Ein vielfältiges Geflecht an Handlungssträngen, Bezügen zur Mythologie, der Geschichte Etruriens, dadurch auch zur Geschichte Italiens, entwirft Alice Rohrwacher. Lose Bilder reiht sie aneinander, evoziert damit die ganz eigene Atmosphäre, die ihre Filme inzwischen unverkennbar macht. Im Gegensatz aber zu ihrem (bisherigen) Meisterwerk „Glücklich wie Lazarro“, in dem die impressionistischen Bilder entlang einer deutlich stringenteren Narration aufgezogen waren, verliert sich „La Chimera“ bisweilen in seinen vielen Handlungssträngen. Ein so kohärentes Ganzes wie in früheren Filmen gelingt diesmal nicht, die vielen Teile stehen oft etwas nebeneinander, statt sich zu einem großen Ganzen zusammenzufinden. Nach dem brillanten „Glücklich wie Lazarro“ mag das leicht enttäuschen, eine der interessantesten, originellsten Regisseurinnen des zeitgenössischen Kinos bleibt Alice Rohrwacher dennoch.

    Fazit: Zum Abschluss einer losen Trilogie von in ihrer etrurischen Heimat angesiedelten Filme, erzählt Alice Rohrwacher in „La Chimera“ von einem Träumer, einem Suchenden, der eine besondere Verbindung zum Tod hat. Auf der Suche nach einer verlorenen Geliebten assistiert er nebenbei einer Gruppe von Grabräubern. In vielen Momenten wunderbar gefilmt, ist das so evokativ wie impressionistisch, und doch findet das alles am Ende nicht ganz so überzeugend zusammen wie in Rohrwachers früheren Filmen.

    Wir haben „La Chimera“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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