Feurige Paranoia
Von Jochen Werner„Ich habe dir doch gesagt, wir hätten digital drehen sollen!“ Mit diesem Stoßseufzer kommentiert die Filmproduzentin Lilith (Nicolette Krebitz) das Verschwinden eines ominösen Stapels mit 16mm-Filmmaterial aus einem Schränkchen in der eigenen Wohnung. Ihr Regisseur und Lebensgefährte Yiğit (Serkan Kaya) jedoch ist Künstler und dreht analog, auch wenn er in den großen Konflikt, den das Material auf besagten Filmrollen anfeuert, zugegeben eher zufällig hineinstolpert. Denn Yiğit dreht einen Film über den Brandanschlag auf ein Solinger Asylbewerberheim, bei dem 1993 fünf Menschen ums Leben kamen. Ein „wichtiges“ Thema also, ein politischer Film – aber auch einer, bei dem, wie so oft im deutschen Themen- und Historienfilm, allgemeine Einigkeit mal wieder billig zu haben ist. So muss es sich jedenfalls Yiğit hier als Vorwurf an den Kopf werfen lassen – und dass die Wahl seiner künstlerischen Mittel dann doch eine immer weiter eskalierende Kontroverse auslöst, ergibt sich in Mehmet Akif Büyükatalays „Hysteria“ eher einfach so, als dass es von Yiğit groß kalkuliert wäre.
Der Konflikt nimmt seinen Ausgang, als einige Statisten, die aus dem örtlichen Asylbewerberheim gecastet wurden, in der Asche des zwecks Re-enactment niedergebrannten Filmsets die Überreste eines Korans entdecken. Und so geht die Debatte los: Einen Koran verbrennen, machen das nicht nur Neonazis? Und wenn man diesen Akt für einen Filmdreh nachstellen möchte, darf man dann einen „echten“ Koran verwenden? Oder hätte man doch auf einen „Fake-Koran“ zurückgreifen müssen? Die Emotionen kochen hoch, beim gläubigen Fahrer Majid (Nazmi Kırık) ebenso wie beim säkularen, aber in seinen kulturellen Wurzeln ebenfalls verletzten Theaterregisseur Mustafa (Aziz Çapkurt). Yiğit und Lilith müssen sich also nun die Frage stellen, wie mit der eigentlich ungeplanten Provokation umzugehen ist. Schneiden sie die Szene raus, um bloß keine religiösen Gefühle zu verletzen, nicht einmal ungewollt? Oder sollte man die Kontroverse nicht im Gegenteil sogar dankbar annehmen? Dann könnte der eher angepasst wirkende Yiğit sich schließlich als Vorkämpfer für die Kunstfreiheit stilisieren!
Zwischen all diesen Seiten steht die junge Regieassistentin Elif (Devrim Lingnau), die mit einem Missgeschick die Tür öffnet für ein allseitiges Täuschungs- und Verwirrspiel – ganz buchstäblich sogar, indem sie zunächst Liliths Wohnungsschlüsssel verliert. Im verzweifelten Versuch, ihren Fehler zu vertuschen, verrät sie dann auch noch einem vermeintlichen Finder die zugehörige Adresse – eine Einladung zum nächtlichen Einbruch. Verschwunden ist dann aber tatsächlich nur das umstrittene Filmmaterial – wer aber hat es aus welchen Motiven verschwinden lassen? Wer profitiert am meisten davon, und wem kann es der Dieb am einfachsten in die Schuhe schieben?
Wenn man liest, worum es in „Hysteria“ so geht, klingt vieles daran erst einmal nach so einem klassisch deutschen Themen- und Dialogfilm – nach einem von jenen Filmen also, über die sich Regisseur und Autor Büyükatalay auch ein Stück weit lustig macht. Denn einen solchen Film, das spürt man recht gut beim Anschauen, wollte er dezidiert nicht machen. Aber was für ein Film ist „Hysteria“ denn stattdessen – und gelingt es ihm wirklich komplett, sich von diesen Fesseln und Fallen des deutschen Problemfilms freizumachen?
Formal greift Büyükatalay auf jeden Fall über weite Strecken in völlig andere Register – vom verstörenden Re-enactment der brennenden Wohnung von Solingen in den ersten Einstellungen, die ihren Charakter als Film-im-Film-Metakino nicht sogleich offenbart, über die Thriller- und Paranoiakino-Elemente, die die Atmosphäre des Films über weite Strecken prägen. Ein wenig Brian De Palma steckt da vielleicht drin, und noch mehr Roman Polanski zu Zeiten von „Der Ghostwriter“ etwa. Aber auch darin geht „Hysteria“ nicht vollständig auf – um wirklich als Spannungskino durchzugehen, bleibt dannn doch wiederum alles zu diskurslastig, und irgendwie auch zu meta.
Was Büyükatalay hier mit seiner zweiten Regiearbeit auf die Leinwand bringt, ist also eine Art Hybrid. Diskurskino und Paranoia-Thriller, schwarze Komödie und Filmbetriebssatire verschlingen sich hier oftmals unentwirrbar ineinander, kontrastieren einander mal auf produktive oder zumindest vergnügliche Weise, und fremdeln andererorts miteinander, als stammten sie aus völlig unterschiedlichen Filmen, die nie so recht zusammenfinden.
Das alles hat sicherlich künstlerische Methode – und auch ein sehr, sehr dickes Buch von Michael Haneke (an dessen „Cache“ man hier auch immer wieder denken muss), das in „Hysteria“ einmal als Türstopper zweckentfremdet wird, wird da ganz und gar nicht zufällig ins Bild gerückt. Es soll nicht alles ineinander aufgehen in diesem Film, und es soll auch nicht jedes Rätsel zweifelsfrei geklärt werden, wenn die finale Eskalation erreicht ist und das (vielleicht etwas zu transparente) Schlussbild einen Zirkelschluss zwischen Anfang und Ende anbietet.
Dass also die eine oder andere Irritation zurückbleibt am Ende von „Hysteria“, ist sicherlich nicht ungewollt – und auch der Eindruck, dass hier unterschiedlichste filmische Grammatiken mitunter etwas unverbunden nebeneinanderstehen, muss ja nichts Negatives bedeuten. Der Gesamteindruck bleibt hier trotzdem etwas ambivalent, denn nicht jede stilistische oder diskursive Reibungsfläche wirkt wirklich produktiv. Dass es sich hier um einen höchst ambitionierten Film handelt, ist aber nicht von der Hand zu weisen, und selbst in den Momenten, in denen „Hysteria“ nicht funktioniert, scheitert er immerhin nicht daran, dass er sich nicht genug vornehmen oder zutrauen würde.
Fazit: Ein bisschen Diskurskino, ein bisschen schwarzhumorige Filmbetriebssatire, und eine ganze Menge filmische Strategien aus dem Spannungs- und Paranoiakino: Nicht alles, was Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay für „Hysteria“ in einen Topf wirft, funktioniert auch wirklich gut miteinander. Ein ambitionierter und ziemlich eigenwilliger Film kommt trotzdem dabei heraus.
Wir haben „Hysteria“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er in der Sektion Panorama gezeigt wurde.