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    Emilia Perez
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Emilia Perez

    Ein queeres Gangster-Telenovela-Musical-Melodram

    Von Michael Meyns

    Eine Geschichte über die brutalen Drogenkriege Mexikos als Musical erzählen? Darauf muss man auch erst mal kommen. Aber damit ist es beileibe noch nicht getan. Denn „Emilia Pérez“ ist nicht nur ein Gangsterfilm mit Gesang, es kommt auch noch ein Schuss mexikanische Telenovela dazu – sowie der Wunsch eines der mächtigsten und grausamsten Kartellbosse des Landes, muskelbepackt und großzügig tätowiert, eine Frau werden zu wollen! Hört sich bizarr an? Und das ist es auch! Das fasert aus, driftet auch dank Selena Gomez in einzelnen Szenen in Richtung eines klassischen Musikvideos ab; wirkt mal höchst originell, dann angesichts der Thematik fast fahrlässig oberflächlich. Insgesamt überzeugt „Emilia Pérez“ aber doch als das, was alle Filme von Goldene-Palme-Gewinner Jacques Audiard („Dheepan“) im Herzen sind: als mitreißendes Melodrama (mit einem Schuss Pulp für die gute Laune).

    Die mexikanische Anwältin Rita (Zoe Saldana) verdient ihr Geld damit, die übelsten Gestalten der Gesellschaft zu verteidigen, Drogendealer, Killer, Frauenmörder. Wirklich glücklich ist sie damit nicht und so zögert sie nur kurz, als sie ein unwiderstehliches Angebot erhält, auch wenn sie dafür dem gefürchteten Kartellboss Mantas del Monte (Karla Sofía Gascón) zu Diensten sein muss. Der hat genug vom grausamen Geschäft und will endlich als sein wahres Ich leben – nämlich als die Frau, als die er sich schon seit seiner Kindheit fühlt. Dafür ist er bereit, nicht nur finanziell einen hohen Preis zu zahlen. Bevor Emilia Pérez geboren werden kann, muss Mantas del Monte erst einmal sterben – und das heißt auch, dass sie nach der herbeigesehnten Geschlechtsumwandlung ihre nicht in den Plan eingeweihte Frau Jessi (Selena Gomez) und die beiden gemeinsamen Kinder nicht mehr sehen kann…

    PAGE 114 – WHY NOT PRODUCTIONS – PATHÉ FILMS - FRANCE 2 CINÉMA - SAINT LAURENT PRODUCTIONS - Shanna Besson
    Anwältin Rita (Zoe Saldana) muss sich entscheiden: Soll sie ihr Leben riskieren für die Chance, schnell sehr reich zu werden?

    Es fällt schwer, Vergleiche für den zehnten Film von Jacques Audiard zu finden, am ehesten könnte man da wohl noch auf Lars von Triers legendäres Björk-Anti-Musical „Dancer In The Dark“ zurückgreifen. Vielleicht dienten Audiard und seinem Co-Autor Thomas Bidegain auch die berühmt-berüchtigten Narcocorridas als Inspiration bzw. als Antithese. Es sind oft in mitreißende Rhythmen getauchte Songs, mit denen die „Erfolge“, wenn man es denn so nennen will, der mexikanischen Drogenbosse besungen und verklärt werden. Dass „Emilia Pérez“ mit der Perspektive der Anwältin Rita beginnt, die als Schwarze Frau zwar die ganze Arbeit leistet, vor Gericht aber ihren männlichen weißen Kollegen die glanzvollen Auftritte überlassen muss, deutet schon an, dass es hier nicht um eine Verklärung der Gangsterwelt geht.

    Wen und was der anfangs noch Mantas del Monte genannte Gangster alles auf dem Gewissen hat, bleibt zwar offen. Aber später, nach der aufwändig organisierten Geschlechtsumwandlung samt geheimer Konten und der Umsiedlung der restlichen Familie in die Schweiz, wird die Reue angedeutet, die Emilia für all das Leid und all die Toten empfindet, die del Monte auf dem Gewissen hat. In dieser Phase, nach gut einer Stunde, liegt der Fokus für eine Weile bei den Opfern des seit Jahrzehnten andauernden Drogenkrieges. Emilia und Rita gründen gemeinsam eine Organisation zur Opferhilfe und versuchen auch mit Emilias noch immer vorhandenen Verbindungen in die Unterwelt, all den Tausenden Müttern zu helfen, deren Männer oder Kinder verschwunden sind. Und brechen auch hier immer wieder ins Singen und Tanzen aus.

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    Kartellboss Mantas del Monte (Karla Sofía Gascón) will ein neues Leben als Frau anfangen.

    Nicht immer klingen die spontanen Singsangs gleichermaßen überzeugend, doch gerade Zoe Saldana („Guardians Of The Galaxy“) überrascht mit erstaunlich gutem Gesang, ebenso wie die spanische Transfrau Karla Sofía Gascón in der Titelrolle. Und Selena Gomez („Spring Breakers“) hat ihre Grammys ja ohnehin nicht ohne Grund gewonnen. Geschrieben haben die Songs das französische Duo Clément Ducol und Camille – sie klingen mal beschwingt, mal melodramatisch, mal wie Chansons, mal wie Rap. Eklektisch ist das und mitreißend, so wie der ganze Film. Zumindest im Studio wurden Locations von Bangkok über Lausanne bis London nachgebaut. Der Großteil spielt aber in Mexiko, das hier als glitzernde, gefährliche Metropole entsteht, eine Welt, bei der man nicht recht weiß, ob es gleich zu einem Schusswechsel oder einer Gesangsnummer kommt.

    Originell und ungewöhnlich ist das in jedem Moment, offenbart auch Qualitäten der in Mexiko so wahnsinnig erfolgreichen Telenovelas. Etwa wenn Emilia ihre Familie nach einigen Jahren doch zu sich zurückholt, sich als Tante vorstellt und so von Frau und Kindern nicht mehr erkannt wird (in Soaps sind ja Gesichts-OPs auch ein beliebter dramaturgischer Kniff). „Emilia Pérez“ ist laut und grell und fast zwangsläufig auch ein wenig oberflächlich. Manche Chance wirkt verschenkt, vor allem ein Aspekt, der erst in der letzten Dreiviertelstunde zumindest angedeutet wird: Verändert sich durch eine geschlechtsangleichende Operation nur der Körper oder auch das Wesen eines Menschen?

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    Dass Selena Gomez singen kann, wird in „Emilia Pérez“ wohl niemanden überraschen.

    Oder anders gefragt: Kann man sein altes Wesen, auch seine unangenehmen Aspekte – wie im Fall eines Gangsterbosses mit Hunderten, wenn nicht gar Tausenden Opfern auf seinem Gewissen – durch eine Transformation des Körpers so einfach ablegen? Allein über diese Frage könnte man ganze Filme drehen – und dass sie bei Audiard nur angedeutet wird, deutet auch an, was für ein enormer erzählerischer Reichtum in „Emilia Pérez“ steckt. Ein Film wie eine mexikanische Telenovela, die sich mit einem Musical auf Speed, einem klassischen Hollywood-Melodrama und bleihaltigen Gangsterfilmelementen gepaart hat. Selbst wenn in diesem in jeder Hinsicht überbordenden Film nicht alles gelingt, ein Erlebnis ist „Emilia Pérez“ in jedem Moment.

    Fazit: Der französische Regisseur Jacques Audiard wirbelt auch in seinem zehnten Film scheinbar völlig disparate Themen und Genres durcheinander. Er springt vom Musical zum Gangsterfilm, erzählt voll überbordender Kreativität und Stilwillen von der Transsexualität eines Kartellbosses. Das fasert auch schon mal unkontrolliert aus, begeistert aber vor allem als jederzeit mitreißendes Melodrama.

    Wir haben „Emilia Pérez“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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