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    The Old Oak
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Old Oak

    Ein letzter Aufschrei nach Solidarität

    Von Christoph Petersen

    Ken Loach ist seit Jahrzehnten DER Chronist der britischen Arbeiterklasse. Nachdem „Ich, Daniel Blake“, seine bittere Anklage des britischen Sozialsystems, 2016 mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde, avancierte der Titel des Films anschließend zum Kampfslogan der Reformbewegung: Sogar die Abgeordneten im House of Commons forderten sich gegenseitig dazu auf, sich den Film anzuschauen, um die alltäglichen Auswirkungen ihrer Entscheidungen besser nachvollziehen zu können. Die zentrale Forderung bringt der Titelheld dabei am besten selbst auf den Punkt: „Ich bin kein Klient, kein Kunde und auch kein Service-Nutzer. Ich bin kein Faulenzer, kein Schnorrer, kein Bettler und auch kein Dieb. Ich bin keine nationale Versicherungsnummer und auch kein Fleck auf einem Computerbildschirm.

    Nun liefert Loach mit „The Old Oak“ seinen nach eigener Aussage endgültig letzten Film – und ihm brennt offensichtlich auch mit inzwischen 86 Jahren noch etwas unter den Nägeln: Im Jahr 2016 in einer heruntergewirtschafteten ehemaligen Minenstadt im Norden Englands angesiedelt, stellt der „Bread And Roses“-Regisseur die Frage, wo denn zu Zeiten des Flüchtlingszustroms bloß jene Solidarität abgeblieben ist, die damals beim großen einjährigen Streik 1984/85 noch alle zu einer untrennbaren Einheit zusammengeschweißt hat? Nach einer rund 60 Jahre umspannenden Karriere ist es dabei verständlich, dass sich Loach einen versöhnlichen Abschied von der Kinoleinwand wünscht – trotzdem wirkt das Happy End von „The Old Oak“ dann doch eher behauptet.

    Yara (Ebla Mari) hat ihre Kamera von ihrem verschleppten Vater bekommen – und ausgerechnet die wird gleich bei ihrer Ankunft von einem Demonstranten zerstört.

    TJ Ballantyne (Dave Turner) hält sich mit seinem Pub The Old Oak dank einer guten Handvoll Stammgäste gerade so über Wasser: Der Festsaal im hinteren Teil ist zwar noch immer mit etlichen stolzen Fotos vom Streik der Minenarbeiter vollgehängt, wurde aber schon so lange nicht mehr genutzt, dass inzwischen die Strom – und Wasserleitungen völlig hinüber sind. Als der Staat syrische Flüchtlinge in den leerstehenden Häusern der Stadt unterbringen will, schlägt den Neuankömmlingen sofort eine Welle rassistischen Hasses entgegen – und auch einige von TJs ältesten Freunde machen aus ihrem Unmut keinerlei Hehl.

    TJ wiederum tut alles, um den Flüchtlingen die Ankunft ein Stück weit zu erleichtern – und lernt dabei auch die junge Syrerin Yara (Ebla Mari) kennen. Zusammen entwickeln sie einen Plan, um gegen die Spaltung der Gemeinschaft vorzugehen. Beim großen Streik wollte die Regierung einst die Minenarbeiter und ihre Familien aushungern lassen, um ihren eisernen Willen zu brechen. Aber das gelang nicht: Unter dem Motto „Zusammen essen, zusammenstehen“ wurde jeden Tag gemeinsam eine Mahlzeit zubereitet und verspeist – und so die Solidarität der Streikenden nur noch weiter gestärkt. Und genauso soll es nun auch laufen – dafür muss aber zunächst einmal der abgewrackte Festsaal wieder hergerichtet werden…

    Man darf ruhig hinter die Wut schauen

    Nirgendwo wurde so überwiegend für den Brexit gestimmt wie in den Orten im Norden Englands, die unter den Minen- und Industrieschließungen der letzten Jahrzehnte am meisten gelitten haben – und es ist absolut kein Geheimnis, dass viele der abgegebenen Stimmen noch mehr gegen die Einwanderung als gegen die EU gerichtet waren. (In Deutschland gilt ähnliches für die deindustrialisierten Gebiete der ehemaligen DDR.) In vielen Filmen rund um die Flüchtlingsproblematik werden die Stammtische solcher Regionen deshalb auch oft als etwas Monströses gezeigt – und das ja teilweise sicher nicht zu Unrecht. Auch Ken Loach beschönigt nichts – schon wenn Yara beim Aussteigen aus dem Bus direkt eingeschüchtert und gedemütigt wird, steigt sofort die Wut im Publikum hoch.

    Aber Ken Loach hat sich über Dekaden hinweg für diese vom System oft abgehängten Menschen eingesetzt - und so wagt er, ohne in seiner klaren antirassistischen Haltung auch nur einen einzigen Schritt zurückzuweichen, trotzdem einen Blick hinter die Wut: Wenn die Jungen der Stadt, die oft den ganzen Tag lang nichts richtiges zu Essen bekommen, traurig zusehen, wie ein syrisches Mädchen ein gebrauchtes Fahrrad gespendet bekommt, dann ist der Reflex, ihnen zu erklären, dass sie nicht eifersüchtig sein sollen, denn die aus dem kriegsgebeutelten Syrien geflüchteten Menschen hätten es ja noch viel schwerer als sie. Das stimmt ja auch – und trotzdem stellt Ken Loach stattdessen die Frage, warum die Jungs in einem der reichsten Länder der Welt nicht auch ein Fahrrad und ausreichend Essen bekommen sollten?

    TJ Ballantyne (Dave Turner) will das Richtige tun – aber das ist gar nicht so leicht, wenn man sich damit gegen diejenigen stellt, mit denen man über Jahrzehnte Seite an Seite gekämpft hat.

    Ken Loach verdammt den Rassismus kein bisschen weniger als andere Filmemacher*innen – und trotzdem versteht er besser als die allermeisten, woher diese Wut (neben schnödem Fremdenhass) auch stammen könnte und wohin sie eigentlich gerichtet werden sollte: Nämlich nach oben, so wie damals beim Minenstreik, und niemals in die Richtung der noch Schwächeren. Ganz direkt aus den bis heute gleich mehrere Generationen prägenden Streikerfahrungen leitet Loach zum Ende seiner Karriere deshalb eine solidarische Utopie ab, bei der das gemeinsame Essen bereits zu einem gemeinsamen Verständnis führt – was dann auch wegen der beiden ur-sympathischen Hauptdarsteller*innen Dave Turner und Ebla Mari so sehr zu Herzen geht.

    Geduld für Subtilität hat der Regisseur mit 86 Jahren allerdings keine mehr. „The Old Oak“ ist ihm sichtlich eine hochemotionale, höchstpersönliche Angelegenheit, deren Message er hier – gerade auf der leicht ins Märchenhafte abgleitenden Schlussgeraden – konsequent mit dem Holzhammer in die Köpfe und noch mehr die Herzen seines Publikums hämmert. Aber das sei ihm jetzt auch einfach gegönnt, am Ende einer langen, kämpferischen Karriere voller Filme, die die Welt mit ihrer Aufrichtigkeit und Menschlichkeit definitiv immer ein kleines bisschen besser gemacht haben.

    Fazit: Ken Loach beschwört mit 86 Jahren noch ein letztes Mal die Solidarität „seiner“ Arbeiterklasse herauf, für die er seit Jahrzehnten immer wieder mit seinen Filmen in die Bresche gesprungen ist (und damit auch in der „realen“ Welt erstaunlich viel erreicht hat). Subtilität sucht man in „The Old Oak“ sicher vergebens, aber direkt zu Herzen geht dieser Aufschrei nach Menschlichkeit dennoch.

    Wir haben „The Old Oak“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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