Alles für das Honigbrot
Von Christoph PetersenDer bereits angeschlagene „Der Exorzist“-Regisseur William Friedkin wollte mit achtzig noch einen Film drehen. Allerdings bestand seine Produktionsfirma auf einer Absicherung, falls er mittendrin ausfällt. Niemand Geringeres als Guillermo del Toro („The Shape Of Water“) sagte daraufhin als „Backup-Regisseur“ zu. Der dreifache Oscargewinner kam jeden Tag ans Set, setzte sich in eine Ecke – und schaute seinem Idol (ohne Gage!) bei der Arbeit zu. Eine bewundernswerte Ehrerweisung und eine rührende Geschichte. William Friedkin konnte „Die Caine-Meuterei vor Gericht“ fertigstellen, verstarb aber vor der Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Venedig.
Bei Fatih Akin („Gegen die Wand“) und seinem Förderer, Kollaborateur und guten Freund Hark Bohm wäre es wohl auf einen ganz ähnlichen Deal hinausgelaufen. Der 1939 in Hamburg geborene Filmemacher („Nordsee ist Mordsee“) wollte seine Kindheitserinnerungen an die letzten, auf den nordfriesischen Inseln verbrachten Kriegstage verfilmen. Aber dann ließen die Kräfte schon vor Drehbeginn so sehr nach, dass Akin das Projekt als Regisseur ganz übernahm. Im Vorspann von „Amrum“ heißt es deshalb auch ungewöhnlich, aber passend „Ein Hark Bohm Film von Fatih Akin“. Der tiefe, ehrlich empfundene Respekt, den Akin seinem inzwischen 85-jährigen Mentor gegenüber aufbringt, ist dabei in jeder Einstellung zu spüren.
Nach der Schule hilft der zwölfjährige Nanning Hagener (Jasper Billerbeck) der benachbarten Bäuerin Tessa Bendixen (Diane Krüger) auf dem Kartoffelacker, um als Belohnung etwas Butter und Milch für seine Familie zu erhalten. Auf dem Festland steht die russische Armee bereits kurz vor Berlin – und die meisten Amrumer*innen können es gar nicht mehr abwarten, dass der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende geht. Bei Nanning zu Hause weht hingegen ein anderer Wind: Sein abwesender Vater ist schließlich ein hohes Tier bei den Nazis (u. a. als Autor des Blutschande-Bestsellers „Biologischer Hochverrat“) – und auch seine schwangere Mutter Hille (Laura Tonke) ist überzeugte Nationalsozialistin.
Als einige Tage später im Volksempfänger die Nachricht verbreitet wird, dass Adolf Hitler „im aufopferungsvollen Kampf gegen die Bolschewiken“ gefallen sei, ist das für viele ein Grund zum Feiern. Aber für die gerade in diesem Moment entbindende Hille bricht die Welt zusammen. Depressiv kommt sie kaum noch aus dem Bett, essen will sie auch nichts mehr. Nur auf ein Weißbrot mit Butter und Honig hätte sie noch Appetit. Für Nanning, der den Wunsch seiner Mutter für bare Münze nimmt, ist das der Beginn einer ereignisreichen Insel-Odyssee. Denn all die nötigen Zutaten zusammenzubekommen ist natürlich gerade in den ersten Nachkriegstagen alles andere als einfach…
08/15-Förderfilme über die Zeit des Zweiten Weltkriegs braucht kein Mensch mehr. Schließlich schauen sich inzwischen nicht mal mehr Schulklassen so etwas an. Also gibt es vor allem noch zwei Wege, sich dem Thema heutzutage zu nähern – den experimentellen wie bei „The Zone Of Interest“ oder einen durch und durch subjektiv-persönlichen, wie ihn nun Hark Bohm in seinem erinnerungsgetriebenen Skript zu „Amrum“ gewählt hat: Dass selbst die Suche nach Butterbrotzutaten plötzlich überlebensgroß und die meisten Amrumer*innen, denen Nanning dabei begegnet, alle leicht karikaturesk-überhöht wirken, ist angesichts der kindlichen Perspektive absolut schlüssig.
Für Nanning gibt es plötzlich nur noch ein Ziel – und der Weg dorthin erinnert fast ein wenig an klassische Adventure Games wie „Monkey Island“: Man muss bei Ebbe das Watt nach Föhr durchqueren, um beim Nazi-Onkel Onno (Jan Georg Schütte) fehlerfrei die Losung der Hitler-Jugend aufzusagen, um dafür ein paar Löffel Zucker zu bekommen, um diese dann bei der Insel-Imkerin für ein wenig Honig einzutauschen. Für das Weißbrot und die Butter gibt es ähnliche (Lösungs-)Ketten, die Nanning mit allerlei Amrum-Originalen zusammenbringen: Für den Plattdüütsch schnackenden Fischer Sam Gangsters (Detlev Buck) muss er sich auf einer Sandbank sogar als Seehund ausgeben, um so die Männchen aus dem Wasser und vor Sams Flinte zu locken.
„Amrum“ ist angesichts der düsteren Zeit ein überraschend sonniger und unterhaltsamer Film. Schließlich werfen die alliierten Flugzeuge ihre explosive Ladung bereits kurz vor der Insel ab – und das noch nicht mal zur Bombardierung, sondern um für den Rückflug den Ballast zu reduzieren. Zudem ist die Erzählung – gerade wegen ihrer betonten Subjektivität – bis obenhin vollgestopft mit kleinen Details über das Inselleben während des Krieges, die man in einem herkömmlichen, historisch fundierten Film über diese Zeit in dieser Dichte kaum zu sehen bekäme.
Zugleich fragt man sich aber schon, was genau jetzt Fatih Akins Beitrag an „Amrum“ ist? Eine eigene Haltung ist jedenfalls eher nicht zu erkennen, vermutlich schon allein deshalb, weil er aus voller Hochachtung die Erinnerungen seines Freundes so unberührt wie möglich für sich stehen lassen wollte. Stattdessen hat Akin die eigentlich ganz kleine, persönliche Erzählung zu großem Kino aufgeblasen: Zum einen schindet er visuell mächtig Eindruck, vor allem mit einigen ungewöhnlichen Drohnenaufnahmen von Amrum sowie nächtlichen Strandszenen mit einem fast magischen Sternenhimmel.
Zum anderen scheint er aber auch sein Adressbuch durchtelefoniert zu haben, um jede noch so kleine Rolle mit einem möglichst großen Star zu besetzen. Vermutlich auch wieder aus dem Wunsch heraus, Hark Bohm nur das Beste zu bieten. Aber während seine „Aus dem Nichts“-Hauptdarstellerin Diane Krüger in ihrer Maximal-fünf-Minuten-Rolle als resolute Bäuerin überzeugt, ist etwa Matthias Schweighöfer die meiste Zeit über nur auf einem Foto zu sehen, bevor er dann für nicht mehr als 30 Sekunden tatsächlich noch auftaucht. Solches bloßes Namedropping reißt eher aus dem Film heraus, als dass die Extra-Stars dem Film noch etwas hinzufügen könnten.
Fazit: Eine sehr persönliche Kindheitserinnerung von Filmemacher Hark Bohm wird von seinem guten Freund Fatih Akin in „Amrum“ mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu großem Kino aufgepimpt – und das weitestgehend erfolgreich.
Wir haben „Amrum“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er in der Sektion Cannes Premiere seine Weltpremiere gefeiert hat.