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    Kill Boksoon
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Kill Boksoon

    Wenn John Wick eine alleinerziehende Mutter wäre…

    Von Björn Becher

    Der Koreaner Byun Sung-hyun („The Merciless“) erzählt in seinem komödiantisch angehauchten Action-Thriller „Kill Boksoon“ zwei eigentlich sehr gegensätzliche Geschichten: Da gibt es das recht klassische Genre-Motiv der Top-Killerin, die aussteigen will und so selbst zur Gejagten wird. Daneben steht die Erzählung einer überforderten alleinerziehenden Mutter, die keinen Zugang mehr zu ihrer Teenager-Tochter findet. Nur handelt es sich in dem Netflix-Original bei diesen beiden Archetypen um ein und dieselbe Figur – und das stellt „Kill Boksoon“ vor eine ganz besondere Herausforderung:

    Denn während die Action und die inhaltlich teilweise deutlich an „John Wick“ angelehnte Welt rund um Killer-Firmen bisweilen ins comichaft-absurde überzeichnet wird, versucht Regisseur und Drehbuchautor Sung-hyun, dazwischen immer wieder auch ruhig-berührende Momente einzustreuen. Gerade die mit ihrem Coming-Out ringende Tochter geht dabei als Figur zunächst allerdings völlig unter. Erst wenn sie am Ende stärker ins Zentrum rückt, zeigt sich, dass in „Kill Boksoon“ mehr steckt als in den Actionszenen gut inszenierte, wenn auch überlange Genre-Kost.

    Boksoon und ihr Mentor – werden sie nun zu Kontrahenten?

    Gil Boksoon (Jeon Do-yeon) ist die beste Killerin ihrer Agentur MK. Ihre besondere (und fast schon übersinnliche) Gabe liegt darin, Situationen selbst in verschiedenen Varianten perfekt voraussehen zu können. Nun steht sie jedoch vor der Entscheidung, ob sie ihren bald auslaufenden Vertrag noch einmal verlängern soll. Während ihr Mentor, der MK-Vorstandsvorsitzende Cha Min-kyu (Sul Kyung-gu), sie unbedingt halten will, fragt sich die in der Branche nur ehrfurchtsvoll Kill Boksoon getaufte Killerin, ob es nicht doch an der Zeit wäre, die Waffen an den Haken zu hängen. Schließlich ist sie auch Mutter der 15 Jahre alten Jae-young (Kim Si-A), die nichts von ihrem Job weiß.

    Als Jae-young einen Mitschüler mit einer Schere attackiert, aber einfach nicht verraten will warum, scheint der Entschluss für Boksoon endgültig festzustehen. Allerdings muss sie dafür noch einen allerletzten Auftrag ausführen – und dabei auch noch eine vielversprechende Killer-Praktikantin (Lee Yeon) mitnehmen. Ausgerechnet bei diesem Job kommen Boksoon allerdings erstmals in ihrer Karriere Gewissensbisse – und verletzt so die oberste Regel ihrer Branche, weshalb die MK-Direktorin Cha Min-hee (Esom) sie zum Abschuss freigibt…

    Korea sucht den Superkiller

    In der Welt von „Kill Boksoon“ teilen die Firmen ihre besten Auftragskiller*innen nach dem Vorbild koreanischer Popstar- oder Model-Agenturen in die Kategorien A, B, C etc. ein. Wer in einer höheren Kategorie unterwegs ist, bekommt die besseren Aufträge. Es werden zudem Firmenmeetings abgehalten, die so auch bei einem Börsenkonzern stattfinden könnten – selbst wenn schon auffällt, dass erstaunlich viele der Anwesenden Narben im Gesicht haben oder ihnen auch schon mal ein Teil des Ohres fehlt. Auch den Tagesordnungspunkt, dass die Zahl nicht offiziell genehmigter Auftragsmorde besorgniserregend in die Höhe schnellt, würde man bei der Jahreshauptversammlung von VW so wohl eher nicht erwarten.

    Da ist allein die Vorstellung doch schon sehr amüsant. Trotzdem darf man hier die Frage stellen, ob der ganze Aufbau eines von Talent-Agenturen geleiteten Killer-Netzwerks voller Regeln wirklich in dieser Ausführlichkeit nötig gewesen wäre. Natürlich nutzt Byun Sung-hyun das alles für ein paar nette Gags. Aber zugleich bremst das exzessive (und quasi mehrere „John Wick“-Teile in einen Film pressende) World-Building nicht nur die Etablierung der Mutter-Tochter-Beziehung aus. Es dauert so viel zu lange, bis „Kill Boksoon“ so richtig in Schwung kommt – und auch die Gesamtlaufzeit von 137 Minuten ist für eine solche zwar auf edgy getrimmte, am Ende aber doch eher leichte Action-Komödie eigentlich deutlich zu lang.

    Eigentlich leitet Cha Min-hee die Agentur vom Schreibtisch, doch nach Boksoons Fehltritt greift sie auch selbst zur Waffe.

    Dabei beginnt es noch angenehm rasant - mit einer starken Actionszene, in welcher der südkoreanische Superstar Hwang Jung-min („Deliver Us From Evil“) in einem wunderbar-exaltieren Gastauftritt einen von sich selbst sehr überzeugten Gangster verkörpert. Es entbrennt ein starker Schwert-vs-Axt-Kampf zwischen ihm und Boksoon – mit einer besonders atmosphärischen Einstellung durch einen vorbeirauschenden Zug hindurch. Byun Sung-hyun zeigt in dieser intensiven Auftaktszene nicht nur visuellen Gestaltungswillen, sondern führt auch die besondere Fähigkeit seiner Titelfigur ein, die nächsten Schritte ihrer Widersacher*innen voraussehen zu können (vergleichbar mit Denzel Washington in den „Equalizer“-Filmen): Wenn Boksoon – mal wieder – der Kopf abgeschlagen wird, dann springt der Film einige Momente zurück, denn das gerade ist nur in ihrer Vorstellung passiert und nun muss sie sich einen anderen Weg ausdenken, um ihrem Gegenüber doch noch den Garaus zu machen.

    Dieses Konzept gibt dem Regisseur die Möglichkeit, einige zusätzliche Actionchoreographien sowie viele zusätzliche Blutspritzer einzubauen. Schließlich gibt es so stets mehrere alternative Versionen eines Kampfes und dabei immer auch einige Varianten, in denen die Hauptfigur selbst brutal stirbt. Zugleich sorgt es aber auch dafür, dass man in längeren Sequenzen wie einer Auseinandersetzung mit mehreren Killern in einem Restaurant nicht mehr wirklich investiert ist. Wird es brenzlig, ist es ohnehin meist nur eine Vorahnung, die gleich wieder revidiert wird. Im Finale wird die Idee dagegen gekonnt auf die Spitze getrieben: Auf den Spuren von Marvels Doctor Strange berechnet Boksoon hier nicht nur eine, sondern gleich alle denkbaren Varianten gleichzeitig durch – und so füllt sich der Raum zunehmend mit Doppelgänger*innen, weil in jeder Ecke eine andere blutige Version desselben Kampfes parallel stattfindet.

    Später Vorstoß zum emotionalen Kern

    Die Action ist zwar immer wieder gut choreografiert, aber gleichzeitig auch ziemlich comichaft-überdreht. Wenn sich der erfahrene Cha Min-kyu in bester „John Wick“-Manier mit lauter Nahdistanz-Kopfschüssen durch eine russische Bar metzelt, spielt der Regisseur auch immer wieder mit der Tumbheit der Widersacher. Im modernen Actionkino ist eine solche Art der humorvollen Distanzierung ja längst nicht mehr die Ausnahme, aber gerade bei „Kill Boksoon“ ist sie dann doch bisweilen ein Hemmnis. Schließlich wird gleichzeitig auch eine im Kern sehr berührende Geschichte erzählt.

    Diese bekommt Byun Sung-hyun allerdings lange Zeit nicht so wirklich zu fassen. Trotz (zu) ausführlicher Einführung ist Gil Jae-young in der ersten Hälfte weniger eigenständige Figur als das schweigend durchs Haus tapernde Nebenproblem ihrer Mutter. Erst spät im Film gewinnt sie an Profil. Da ist es fast schon zu spät – aber eben auch nur fast: Wenn sie dann nämlich zaghaft in die erste Reihe geschoben wird, darf sie brillieren – auch weil trotz aller Überzeichnung, die dieser Film sonst hat, ihr Coming-Out sehr geerdet und gelungen nüchtern erzählt wird. Passend steht in der ganz ihr gehörenden Mid-Credit-Szene nicht ein Gag, sondern ein starker Moment der Selbstermächtigung im Mittelpunkt.

    Fazit: Die stark choreografierte, wenn auch bisweilen arg comichaft-überdrehte Action sowie die im Kern wirklich berührende Mutter-Tochter-Geschichte lassen sich hier ganz schön lang Zeit, um dann endlich zueinanderzufinden. Nach einer abgesehen vom gelungenen Auftakt etwas zähen ersten Hälfte klappt das aber in der starken finalen Stunde immer besser...

    Wir haben „Kill Boksoon“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.

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