Ein kafkaesker Kampf um Gerechtigkeit
Von Patrick FeyEs hat womöglich etwas Entlastendes, wenn man als Dokumentarfilmer*in auf Fakten nicht nur zurückgreifen kann, sondern es der Berufsethik zufolge auch sollte. Der Stoff ist damit gewissermaßen festgezurrt, das Regelwerk mehr oder weniger klar definiert. Womit nicht gesagt werden soll, dass man in Dokumentationen alles Gezeigte für bare Münze nehmen sollte (ein jüngeres Beispiel dafür bietet Mati Diops oft unzureichend als Dokumentation kategorisierter Berlinale-Gewinner „Dahomey“, bei dem sich später herausstellte, dass die besonders packenden Diskussionsszenen unter den Studierenden inszeniert waren).
Der ebenfalls oft dokumentarisch arbeitende Sergei Loznitsa greift in seinem Drama „Zwei Staatsanwälte“ bewusst zur Fiktion, fühlt sich aber in seinem Geist und der Dramaturgie so entschieden dem historischen Realismus verpflichtet, dass man sich schon bald die Frage stellt, warum es nun dieser Fiktionalisierung überhaupt bedurfte. Ob man die eine Antwort, die einem in den Kopf schießen mag — nämlich: „um den Geschichtsunterricht packender zu gestalten“ — als hinnehmbar erachtet, entscheidet dann auch, welche Qualität man Loznitsas streng prozeduralem Historienfilm über die Verbrechen während des Stalin-Terrors zuzusprechen bereit ist.
Die Prämisse, mitsamt dem Protagonisten, entstammt der gleichnamigen Novelle von Georgy Demidov, der seinerseits selbst 14 Jahre in den sowjetischen Gulags verbrachte. Geschrieben wurde das Manuskript 1969 zu einer Zeit, als ein Bekanntwerden des Textes bereits jede involvierte Person in Gefahr gebracht hätte. Folglich wurde der Text 1980 – noch immer unveröffentlicht – vom KGB konfisziert und erschien schließlich erst 2009 in gedruckter Form: Darin erreicht den aufrichtigen Jung-Staatsanwalt Alexander Kornyev (Aleksandr Kuznetsov) auf gar wundersame Weise eine Nachricht aus einer Hochsicherheitszelle, die ihn über die methodisch durchgeführten Folterungen der sowjetischen Geheimpolizei NKVD unterrichtet.
Das Politbüro hat längst keine Verfügungsgewalt über die Einheit mehr. Die Absicht des idealistischen Bolschewiken Kornyev, der lokalen Korruption ein Ende zu setzen, kann kaum anders, als die Zuschauenden an sich zu ziehen. Und doch wird sich jede und jeder schnell ausmalen können, wohin die Reise für den an die Institutionen – oder zumindest an das ihr innewohnende Gerechtigkeitspotenzial – glaubenden Kornyev geht. Womit uns als Publikum auch schnell klar wird, dass es Loznitsa hier nicht um das „Was“ gehen kann, sondern einzig um das „Wie“.
Was konkret bedeutet: Sobald sich der junge Protagonist aufmacht, sich durch die ihn zu zermürben suchenden Institutionen zu arbeiten — zunächst, um einen Widerständigen anzuhören, später, um nach dessen Aussagen strafrechtliche Untersuchungen gegen die örtliche NKVD-Einheit einzuleiten — findet er sich mit Schranken über Schranken konfrontiert. Das Vorhaben ist hier recht offensichtlich, und es ist dem Ansatz nach auch effektiv: Wenn wir den frisch von der Universität in den Dienst gewechselten Kornyev dabei begleiten, wie er wieder und wieder dazu angehalten wird, auf die jeweils zuständigen Autoritäten zu warten, stellen sich ihm nicht nur Menschen und Prozeduren in den Weg. In einem sich über unzählige Trakte erstreckenden Gefängnis öffnet sich, nachdem den Verantwortlichen die Ausreden ausgehen, ein metallenes Gittertor nach dem anderen, das, sobald dessen Schwelle überschritten wird, sofort wieder von einer der vielen Wachen abgeschlossen wird.
Insgesamt wird in den zwei Stunden von „Zwei Staatsanwälte“ vielleicht 30 Minuten lang miteinander gesprochen. Die übrige Zeit besteht daraus, zu warten, Gefängnisgänge entlangzuschreiten oder aus dem Öffnen und Schließen von Türen und Toren. Man könnte sich das als Realfilm-Version der legendären Passagierschein-38A-Seuqenz aus „Asterix erobert Rom“ vorstellen – nur eben in einem kontrastlos-gräulichem Gulag. Wie man es in einem solchen Film erwarten würde (um nicht zu sagen: wie es das Arthouse-Regelwerk gebietet!), werden diese Gänge im statischen, quasi-quadratischen 4:3-Bildformat buchstäblich „eingefangen“.
Dies verändert sich auch nicht nach Kornyevs Gespräch in der Spezialzelle mit dem letzten Widerständischen der NKVD. Nachdem dieser ihm, dem Organversagen nahe, zeigt, welche Verwüstungen an seinem Körper begangen wurden, begibt sich Kornyev mit dem nächsten Zug nach Moskau, wo er den Oberstaatsanwalt aufsucht, um ein unvoreingenommenes Untersuchungsverfahren zu erwirken. Dass Loznitsa öffentlich erklärte, sich in seiner Adaption neben dem Ursprungstext auch an Gogol und besonders Kafka orientiert zu haben, liegt auf der Hand. Doch das, was Kafka vielleicht am meisten auszeichnet — der bürokratischen Absurdität einen (bisweilen bösartigen) Humor abzutrotzen — wird hier schmerzlich vermisst.
Und auch die Tragödie, als die Loznitsa seinen Film beschreibt, muss als solche infrage gestellt werden, will sich in „Zwei Staatsanwälte“ doch keine echte Tragik einstellen. Dafür ist das alles von Anfang an bis zum logischen Schlusspunkt viel zu klar. Der pure Realismus, den der in Belarus geborene ukrainische Filmemacher verfolgt, mag der eine oder die andere als eine dem Thema geschuldete Ernsthaftigkeit auslegen. Dieser gerät hier allerdings vor allem monoton. Zumal seine überausgeleuchteten Bilder so stark auf die eigene Digitalität (was hier sagen will: auf ihre Gegenwärtigkeit) zurückweisen, dass die Darsteller mit ihren glatten Gesichtern und den betont starken Konturen bisweilen einem Videospiel entsprungen scheinen.
Fazit: Vermutlich gibt es keinen Regisseur, der in den letzten Jahrzehnten auf so umfangreiche Weise die (Verbrechens-)Geschichte der UdSSR sowohl dokumentiert als auch auf fiktionalem Weg bearbeitet hat wie Sergei Loznitsa. Dass sein Cannes-Wettbewerbstitel „Zwei Staatsanwälte“ diesem Werk keinen entscheidenden neuen Impuls hinzufügt, ist nicht zuletzt auf die Geschlossenheit der Handlung und die grausliche Digitalästhetik zurückzuführen, die uns sowohl die kritische Auseinandersetzung als auch die historische Immersion verunmöglicht.
Wir haben „Zwei Staatsanwälte“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb seine Weltpremiere gefeiert hat.