Tanzen bis zum Weltuntergang
Von Ulf LepelmeierDer spanische Regisseur Óliver Laxe („Fire Will Come“) entführt sein Publikum mit „Sirāt“ in die Grenzregion zwischen Realität und Transzendenz. Was als Roadmovie auf der Suche nach einer verschwundenen Tochter beginnt, entwickelt sich in erschreckender Konsequenz zu einer düsteren Vision von einer Welt im Ausnahmezustand. Während im Hintergrund – vor allem über Radioschnipsel vernehmbar – ein globaler Krieg tobt, tanzt eine Raver-Community, die sich von der Realität abzukoppeln versucht, auf dem Vulkan.
„Sirāt“ oszilliert zwischen der fiebrigen Euphorie ekstatischer Tanzszenen, der Weite der marokkanischen Wüste und der Trostlosigkeit einer Welt, die bereits aus den Fugen geraten ist. Laxe kreiert in seinem dritten Spielfilm, mit dem er zum ersten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen wurde, ein verdichtetes, metaphorisch aufgeladenes Sittenbild in berauschenden Wüstenaufnahmen. „Sirāt“ ist kein Eskapismus, sondern ein existenzielles Drama über Verlust, Gemeinschaft und das (Ver-)Laufen in der Wüste, sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Ein Rave mitten in der marokkanischen Wüste. Während ekstatische Körper im Staub zu pulsierenden Bässen tanzen, mischen sich zwei Außenstehende unter die Menge: Luis (Sergi López) und sein zwölfjähriger Sohn Esteban (Bruno Núñez) suchen nach Luis’ Tochter Mar, die seit Monaten verschwunden ist. Ihre Spur führt sie hierher, doch niemand scheint die Verschollene zu kennen oder gesehen zu haben. Ein paar Raver erzählen von einem nächsten Event an der Grenze zu Mauretanien, zu dem Mar eventuell auch kommen könnte.
Am nächsten Tag wird die illegale Veranstaltung vom Militär geräumt, offenbar ist gerade der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Die Fahrzeuge werden auf der einzigen Straße eskortiert. Doch dann bricht eine Gruppe mit ihren umgebauten Trucks einfach aus und bricht quer durch die Wüste in Richtung Atlasgebirge auf. Luis zögert erst, folgt dann aber doch – immer in der Hoffnung, seine Tochter zu finden – den sich absetzenden Trucks. Es beginnt eine Reise durch archaische, lebensfeindliche Landschaften…
Fast dokumentarisch beginnt Óliver Laxe seinen 2025 mit dem Preis der Jury in Cannes ausgezeichneten Film: Mit nüchternem Blick zeigt „Sirāt“, wie inmitten der marokkanischen Steinwüste ein riesiges Soundsystem errichtet wird. Aus Lautsprechertürmen dröhnen bald die ersten Bässe, Körper geraten in Ekstase. Ein Rave im Nirgendwo beginnt, scheinbar losgelöst von der Zeit und der Welt. Doch die rauschhafte Euphorie ist nicht von Dauer und eröffnet die Reise durch menschenfeindliches Terrain immer weiter hinein in ein Niemandsland – das hat sogar gewisse „Mad Max“-Vibes.
Die Handlung bleibt dabei bewusst fragmentarisch. Wer diese Menschen sind, wie sie zueinanderfanden, was sie antreibt – all das wird nur angedeutet. Dialoge sind spärlich, Erklärungen bleiben aus. Stattdessen setzt Laxe auf eine audiovisuelle Erfahrung. Was zählt, ist das Erleben – körperlich, klanglich, visuell. Die Zuschauer*innen werden zu Beobachter*innen eines wortkargen, aber intensiven Ausnahmezustands, der sich immer mehr in Richtung Metapher auflädt. Doch sicher dürfen sie sich bei diesem Trip nie fühlen, denn dafür ist die Wüste zu gefährlich und das Schicksal, das Laxe für seine Figuren vorsieht, zu schmerzlich.
Die Landschaft selbst spielt dabei eine Hauptrolle. Die Wüste wird zur metaphorischen Sirāt, einer schmalen Brücke über die Hölle im islamischen Jenseitsglauben, ein Ort der Prüfung, der Läuterung, aber auch der tödlichen Versuchung. In körnigen Bildern fängt Laxes Stammkameramann Mauro Herce die archaische Weite ein, gedreht fast ausschließlich unter freiem Himmel, im gleißenden Licht des Atlasgebirges. Aus der Ferne beobachtet seine Kamera, wie sich die Trucks durch Geröll und Staub kämpfen, wie Fremdkörper in einer Welt, die ihnen nicht wohlgesonnen ist. In ihrem Setting und ihrer Wucht erinnern diese Bilder stellenweise an die „Mad Max“-Filme, allerdings ohne Aktion-Spektakel, sondern mit einer beatdominierten, kontemplativen Intensität.
Untrennbar verbunden mit der Bildsprache des Films ist die hypnotische Klangkulisse von Kangding Ray, dessen Score aus dröhnenden Basslines und darüber wabernden, düsteren Synthesizerflächen besteht, die eine bedrohliche Sogwirkung entfaltet. Der durchgehende Beat, mal treibend, mal beklemmend, ist das emotionale Rückgrat des Films. Er verleiht den Szenen Energie, zieht die Figuren – und mit ihnen das Publikum – immer tiefer in einen Zustand zwischen Rausch und Resignation. Musik wird zum emotionalen Taktgeber, zum Puls einer Gegenwart, die sich aufzulösen scheint.
Doch der kollektive Rausch, die Momente der Gemeinschaft, des ekstatischen Vergessens, sie zerbrechen jäh und ohne Vorwarnung. „Sirāt“ erzählt eben auch von der Hybris, sich vom Weltgeschehen abkoppeln zu wollen – immer im Glauben, im Rhythmus der Beats ließe sich der Untergang wegtanzen. Von Rave zu Rave taumelt die Gemeinschaft in eine Vision der Endzeit und zahlt am Ende einen hohen Preis. Die Wüste verzeiht nichts. Und das Kino von Óliver Laxe auch nicht. Es bleiben Schmerz und Verlust sowie die erschütternde Erkenntnis: Kein Beat der Welt kann das Ende aufhalten!
Fazit: Mit „Sirãt“ hat Óliver Laxe ein beatgetriebenes Road-Movie über Verlust und Eskapismus geschaffen, das mit seinen skrupellos-schmerzlichen Wendungen schockiert und ein Gefühl für die Trostlosigkeit des Endes der Welt transportiert. Ein Film wie eine seelische Prüfung – existenziell, unnachgiebig, hypnotisch.