Resurrection
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
5,0
Meisterwerk
Resurrection

100 Jahre Kino in zweieinhalb bildgewaltigen Stunden

Von Michael Meyns

Was sind die Kriterien für einen guten Film: Soll er unterhalten? Originell sein? Technisch brillant? Auf der richtigen Seite der Moral stehen? Manche Filme erfüllen keine, andere alle – und so kann man dann mehr oder weniger objektiv eine Sternewertung daraus ableiten. Aber ganz selten existiert ein Film so sehr in seinem ganz eigenen Universum, dass er sich allen konventionellen Maßstäben entzieht. So ein Film ist „Resurrection“, ein 155 Minuten langer, surrealer-überbordender Fiebertraum, mit dem der chinesische Regisseur Bi Gan weit über die Grenzen des konventionellen narrativen Kinos hinausgeht. Nach einmaligem Sehen schon völlig zu durchschauen, worum es in den einzelnen Episoden genau geht, erscheint kaum möglich.

So sind die einzelnen Episoden zwar in verschiedenen Phasen der chinesischen Historie verortet, vor allem aber spielen sie mit verschiedenen erzählerischen und stilistischen Versatzstücken der Filmgeschichte. Das erinnert mal an einen expressionistischen Stummfilm, mal an einen abstrakten Film noir, mal an einen sonnigen 70er-Jahre-Gangsterfilm. Der Höhepunkt ist eine 35-minütige Plansequenz ohne Schnitt, die mit einem Feuerwerk beginnt, und dann immer nur noch einen draufsetzt – gefilmt mit einer atemberaubenden technischen Brillanz gehört diese nachtrote Vampirgeschichte zum Spektakulärsten, das seit langem auf einer Kinoleinwand zu sehen war.

Die zweite Episode erinnert an ein Film noir aus den 1940ern – mit einem MacGuffin-Koffer, der die Geheimnisse für das Ende aller Kriege beinhaltet. Les Films du Losange
Die zweite Episode erinnert an ein Film noir aus den 1940ern – mit einem MacGuffin-Koffer, der die Geheimnisse für das Ende aller Kriege beinhaltet.

In der Zukunft haben die Menschen endlich einen Weg zur Unsterblichkeit gefunden: Solange sie nicht träumen, altern sie auch nicht. Aber es gibt Menschen, sogenannte Fantasmer, die sich lieber in die fantastischen Welten der Träume flüchten und dafür in Kauf nehmen, zu altern und zu sterben. Aber weil sie Realität und Träume durcheinanderbringen, können die Fantasmer zugleich auch den Fluss der Zeit durcheinanderbringen. Daher gibt es wiederum Wesen, die sie auffinden und aufwecken sollen – nur ist das gar nicht so leicht, denn die Fantasmer können sich in jeder Ecke der (Kino-)Geschichte verbergen…

Vom Stummfilm zum Oneshot

„Resurrection“ beginnt im fast quadratischen 4:3-Stummfilmformat: Ein Fantasmer, der mit seiner Glatze und seinem Buckel an den Glöckner von Notre Dame, aber auch an Nosferatu oder an den Schlafwanderer aus Dr. Caligari erinnert, streift durch albtraumhaft schöne Kulissen, die deutlich an den Expressionismus des deutschen Kinos der 1920er Jahre erinnern. Zwischentitel erklären die Parameter dieser Welt, eine Fotografin hat Mitleid mit dem Wesen, füttert sein Gehirn mit 35mm-Film, doch das Zelluloid verbrennt, der Fantasmer wacht auf. Nun liegt das Wesen auf einer Wiese und spielt mit einem Wasserschlauch, was an einen der frühen Kurzfilme der Brüder Lumière erinnert.

Und so geht es weiter, mit immer wechselnden Figuren, quer durch die Filmhistorie und parallel dazu auch durch die chinesische Geschichte. Filmgenres vom Kriegsfilm über Spionagegeschichten bis zum Melodram werden zitiert, manche Passagen scheinen während des Zweiten Weltkriegs stattzufinden, andere während der Kulturrevolution. Das gewaltige Oneshot-Finale schließlich spielt am Silvesterabend 1999, als das Millennium vor der Tür stand, manche gar das Ende der Welt befürchteten – und China, nach Jahrzehnten des Aufholens, am Beginn des neuen Jahrhunderts bereit war, eine Führungsrolle in der Welt zu übernehmen.

Die spektakulärste Kinosequenz des Jahres!

Wer einmal das Glück hatte, Bi Gans „Long Day's Journey Into Night“ im Kino zu sehen, der wird die längst legendäre, in 3D gefilmte, 60 Minuten lange Oneshot-Sequenz in der zweiten Hälfte des Films wohl nie mehr vergessen. Und jetzt setzt Gan sogar noch einen drauf (wenn auch ohne dritte Dimension): Die Sequenz beginnt an einem Pier, ein junger Gangster und eine schöne Frau flüchten nach einer Schießerei durch ein verfallenes Gebäude, hinaus in enge Gassen, beleuchtet von einem durchdringenden roten Licht, im Dauerregen. Die Kamera folgt ihnen fließend, hinein in einem Club mit dem vielsagenden Namen Sunrise. Phasenweise nimmt die Kamera die Perspektive eines Gangsterbosses ein, als wäre man in einem Ego-Shooter unterwegs – es wird getanzt und Karaoke gesungen. Gut 35 Minuten lang dauert diese Einstellung ohne Schnitt – und ohne, dass er dafür mit digitalen Methoden trickst, geschieht während des ohnehin schon atemberaubenden visuellen Rausches etwas Erstaunliches:

Die Kamera blickt aus einem Fenster, hinaus auf eine zentral nach hinten verlaufende Straße, auf der die Menschen sich plötzlich wie im Zeitraffer bewegen. Minutenlang geht das so, im Hintergrund ist auf einer Leinwand ein Schwarz-Weiß-Film zu sehen. Schließlich wird die Leinwand abgebaut, die Straße leert sich, die Kamera bewegt sich aus dem Fenster und verfolgt wieder die beiden Hauptfiguren. All das ist schon sensationell, aber es geht noch weiter. Die Liebenden finden den Weg zurück zum Pier, steigen auf einen Kahn, der nun den Fluss hinabfährt, dem Sonnenaufgang entgegen. Und als würde das nicht reichen, endet diese unfassbare Sequenz damit, dass das Bildformat sich plötzlich öffnet, von 2,35:1 auf 1,85:1 wechselt und in den letzten Momenten der Szene am Horizont perfekt getimt die Sonne aufgeht.

Pure Überwältigung

Was das genau mit der an Stummfilme erinnernden Sequenz zu tun hat? Oder einer Sequenz, in der ein anderer Gangster einem jungen Mädchen beibringt, Karten mit ihrem Geruchssinn zu erkennen? Irgendwelche Erklärungen lassen sich gewiss konstruieren, vor allem aber scheint es Bi Gan darum zu gehen, die Möglichkeiten des Kinos auszuloten, das Kino in Zeiten fragmentierter TikTok-Aufmerksamkeit wieder als Ort zu etablieren, der als Überwältigungsmaschine funktioniert. In den letzten Momenten von „Resurrection“ schrumpft das Bildformat wieder auf Stummfilmgröße zusammen, auf der Leinwand ist eine kleine Leinwand zu sehen, vor der sich Menschen zum gemeinsamen Erleben eines Films versammeln. Auf der Leinwand im Film erscheint The End, am Ende eines Films, der sich konventionellen Kategorien der Kritik entzieht, der überbordend und exzessiv wirkt, der in die Vergangenheit des Films blickt, weil er an die Zukunft des Kinos glaubt.

Fazit: Auf dem Papier hört sich Bi Gans „Resurrection“ wie eine ganz normale fantastische Geschichte an, doch was der erst 35-jährige Chinese hier wagt, ist ein stilistisch aus allen Ecken der Filmgeschichte schöpfendes Wunderwerk, das Grenzen sprengt und Film wieder zum Spektakel macht, das unbedingt in einem möglichst großen Kinosaal gesehen werden muss.

Wir haben „Resurrection“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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