Ein außergewöhnlicher Film über einen gewöhnlichen Tag
Von Kamil MollGestern sei ein Tag gewesen, an dem er eigentlich nichts erlebt habe, sagt Peter Hujar (Ben Whishaw) immer wieder zu der Schriftstellerin Linda Rosenkrantz (Rebecca Hall). Er sei zwischendurch einige Male für kurze Zeit eingeschlafen und habe ansonst viel Zeit in seiner Dunkelkammer bei der Entwicklung von Bildern verbracht. Rosenkrantz plant ein Buchprojekt: Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, New Yorker Künstler und sonstige Bohemiens, sollen einen Tag lang jede Kleinigkeit, die sie tätigen und die ihnen zustößt, minutiös festhalten und ihr am nächsten Morgen in allen Details nacherzählen. Als ersten Gesprächspartner befragt sie Hujar, einen aufstrebenden Fotografen und einen ihrer engsten Freunde. Aber dieser vertrödelt es zunächst, an diesem 18. Dezember 1974 Notizen zu führen. Also kritzelt er am nächsten Morgen hastig einige verstreute Erinnerungen hin, bevor er zu Rosenkrantzs Wohnung aufbricht.
Zu dem geplanten Buch ist es nie gekommen und wir wüssten heute wahrscheinlich auch nichts mehr von diesem Tag, den Peter Hujar vor über einem halben Jahrhundert erlebt hat, wenn nicht viele Jahre später ein Transkript des Gesprächs aufgetaucht und 2022 publiziert worden wäre. Diese bildet die etwas veränderte und gekürzte Grundlage für den nur eine Stunde und 16 Minuten langen „Peter Hujar’s Day“ von Ira Sachs („Passages“), der die Plauderei zwischen zwei Lebensmenschen an einem durchschnittlichen Tag in der Upper East Side als ein melancholisches Schauspiel und eine feinsinnige Erinnerung an eine vergangene Empfindungs- und Erfahrungswelt reinszeniert hat.
„Gewöhnlich“ kann dieser 18. Dezember wohl nur für jene gewesen sein, die ihn miterlebt haben. Denn die New Yorker Downtown-Szene jener Zeit war voller Namen, die heute längst einen geradezu mythischen Klang besitzen. „Zum Glück für uns alle“, schrieb Rosenkrantz später rückblickend, „war sein Tag vielleicht noch mehr als sonst voller Begegnungen mit Menschen, die heute als kulturelle Ikonen gelten und aus allen Kreisen stammten, in denen Peter sich bewegte.“ Zur Mittagszeit besuchte Peter Hujar beispielsweise den Dichter Allen Ginsberg in dessen Wohnung an der Lower East Side, um von ihm Porträtfotos zu machen – sein erster Auftrag für die renommierte Tageszeitung „New York Times“, von dem sich Hujar eine zukünftige stabile Geldeinnahmequelle erhoffte.
Aber Ginsberg habe ihm misstraut, erzählt er süffisant seiner Freundin. Dessen Lebensgefährte Peter Orlovsky öffnete die Tür und ließ ihn erst mal für längere Zeit stehen. Schön könne man diesen Mann, dessen Kopf aus einem überproportional riesigen Bart bestehe und ansonsten haarlos sei, eh nicht wirklich nennen. Als ihm Hujar sagte, dass er demnächst auch Bilder von William S. Burroughs machen würde, erwiderte Ginsberg lediglich kühl, dass man „Bill“ aber zuvor wohl aber einen blasen müsse, damit die Aufnahmen gelängen.
Mit gelassener Beiläufigkeit fallen in den knapp 76 Minuten von „Peter Hujar’s Day“ noch so einige Namen bekannter Persönlichkeiten. Die Schriftstellerin Susan Sontag etwa, bei der sich Hujar um ein Vorwort für einen zukünftigen Fotoband bemühte. Sie schreibe nur, wenn sie müsse, oder für Freunde, soll Sontag am Telefon erwidert haben. Auch das Treffen mit einer Journalistin des französischen „Elle“-Magazins, die morgens auftaucht, um einige Fotografien mit dem Model Lauren Hutton abzuholen, verläuft eher unterkühlt.
„Sie war kürzer da, als ich nun brauche, um dir davon zu erzählen“, bringt der Fotograf Rosenkrantz zum Lachen. Der Ton zwischen den zweien ist spöttisch und humorvoll. Beide schauen auf die Stars, unter denen sie verkehren, aus einer bewussten Distanz: Dazu gehören sie bislang nur als Berichterstatter*innen und Beobachter*innen ihrer Szene, sind noch nicht aus eigenem Recht prominent.
Nur allzu bereitwillig schaut man Ben Whishaw („Limonov: The Balad“) und Rebecca Hall („Godzilla x Kong: The New Empire“) bei diesem wundervoll launigen und bisweilen bösartigen Schwatz zu, den Ira Sachs auf analogem 16mm-Material bei sich verändernden Lichtverhältnissen um einen kompletten Tag vom morgendlichen Sonnenaufgang bis zur einsetzenden Abenddämmerung herum strukturiert hat. Die Gesten und Bewegungen der beiden, das Mienenspiel und die warmen, einander zugeneigten Blicke fängt der Film mit einer detailgenauen Präzision und Liebe ein, als sei jede Regung ein gewaltiger, dramatischer Event.
Für jede Geschichte, jede Einzelheit scheint Sachs dabei die passende Pose, die adäquate Einstellung gefunden zu haben: Whishaws Kopf sanft auf Halls Bauch abgelegt, seine Finger mit ihrem Kragen spielend. Eine Sequenz auf dem Dach des Gebäudes, bei der beide gedankenverloren auf die treibenden Wellen des Hudson-Flusses blicken, während sich die Sonne langsam Richtung Horizont neigt. In seiner sich betont klein gebenden Form, der Konzentration auf zwei miteinander sprechende Menschen in einem Apartment, ist „Peter Hujar’s Day“ so in Wirklichkeit eine große Auferweckung eines vor vielen Jahren zu Ende gegangenen Tages, wie sie nur dem Kino gelingen kann.
Fazit: In „Peter Hujar’s Day“ reinszeniert Ira Sachs mit Ben Whishaw und Rebecca Hall ein Gespräch zwischen zwei Künstler*innen und lässt mithilfe beiläufiger Erinnerungen an einen durchschnittlichen Dezembertag im New York der 1970er-Jahre eine ganze Lebenswelt wiederauferstehen.
Wir haben „Peter Hujar’s Day“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er in der Sektion Panorama gezeigt wird.