Als Selfies noch zwei Wochen gedauert haben
Von Christoph PetersenCédric Klapisch („Einsam Zweisam“) hat sich vor allem mit den Ensemble-Komödien der sogenannten Xaver-Trilogie einen Namen gemacht: Der erste Teil, „L'Auberge Espagnole“ über eine Gruppe ausländischer Studierender in Barcelona, war 2003 mit fast 400.000 Besucher*innen auch in Deutschland ein Kinohit. Aber mit „Die Farben der Zeit“ geht der französische Regisseur nun sogar noch einen Schritt weiter: Diesmal stammt das sogar noch umfangreichere, bis in die kleinste Nebenrolle namhaft besetzte Figurenarsenal nämlich nicht aus verschiedenen Ländern, sondern direkt aus verschiedenen Jahrhunderten.
Manchmal braucht es nicht mal einen Schnitt, um zwischen dem Paris des Jahres 1894 und dem Paris des Jahres 2024 hin und her zu springen. Für Fans der Seine-Metropole ist das sicherlich ein Traum! Aber die Lehren, die Klapisch und sein Stamm-Co-Autor Santiago Amigorena („Der Wein und der Wind“) aus dem Nebeneinander der Epochen ziehen, erreichen nur selten mehr Tiefe als ein durchschnittlicher Kalenderspruch. Dafür gibt es augenzwinkernde Wiedersehen mit so ziemlich allem, was in Zeiten der französischen Proto-Avantgarde einen Namen hatte – egal ob in der Malerei, der Fotografie, der Literatur oder auf der Bühne.
3.000 Parkplätze soll die neue Mega-Mall in der Normandie bekommen. Aber noch steht dem Bau ein kleines Haus im Weg, das einst Adèle Meunier née Vermillard gehörte, aber schon seit 1944 nicht mehr geöffnet wurde. Die Nachforschungen haben ergeben, dass es ca. 30 Erbberechtigte gibt, die sich untereinander allerdings kaum kennen. Es wird bestimmt, dass vier von ihnen hinfahren sollen, um vor dem Verkauf zu schauen, was sich noch alles – auch an Hinweisen auf die Geschichte der Familie – in dem Haus befindet.
Wenn sich die Tür zum ersten Mal nach 80 Jahren wieder öffnet, ist es fast so, als würden der Lehrer Abdel (Zinedine Soualem), der Bienenzüchter Guy (Vincent Macaigne), die Expertin für disruptive Innovation Céline (Julia Piaton) und der Content Creator Seb (Abraham Wapler) durch die efeubehangene Pforte eine verwunschene Welt betreten. Und tatsächlich: Als Seb nach einem 15-stündigen Videodreh am Vortag ein kleines Nickerchen macht, träumt er plötzlich von seiner Vorfahrin. Die junge Adèle (Suzanne Lindon) macht sich im Jahr 1894 auf den Weg nach Paris, um dort nach ihrer Mutter zu suchen, die sie bereits kurz nach der Geburt zurückgelassen hat…
In der ersten Szene filmt Seb seine Influencer-Freundin für einen Fashion-Shoot vor einem impressionistischen Gemälde in einem Museum. Allerdings solle er die Einstellung bitte so wählen, dass möglichst viel von ihr und möglichst wenig vom Bild zu sehen ist. Dieser Kunst-Kretin-Einstieg verweist nicht nur darauf, dass Claude Monet (Olivier Gourmet) später noch eine ganz zentrale Rolle spielen wird. Es ist auch sofort klar, dass sich Seb lieber eine andere suchen sollte – und tatsächlich filmt er später ein Musikvideo für die angesagte Singer-Songwriterin Fleur (Pomme), die ihn darum bittet, bloß nicht zu viel von ihr, sondern lieber mehr von der Seine ins Bild zu nehmen. Damit ist alles klar – und das ist dann auch in etwa das Niveau, das den Ton für die meisten der zahlreichen kleinen Vignetten rund um die Gegenwarts-Figuren setzt.
Am Ende wird Seb seinem Großvater (François Chattot) dafür danken, dass dieser ihn gezwungen hat, mit den anderen Erb*innen zum Haus seiner Vorfahrin zu reisen. Er hätte bisher schließlich immer nur in Richtung Zukunft gelebt – aber nun, durch das Zurückschauen in die Vergangenheit, eine Menge gelernt. Mehr als diese typischen Lebensweisheiten, die nur im ersten Moment ganz schlau klingen, wenn man sie auf einem Posting in den Sozialen Medien erspäht, kann dabei aber eigentlich nicht rumgekommen sein. Was übrigens nicht heißt, dass die gut zwei Stunden von „Die Farben der Zeit“ nicht trotzdem ihren Reiz haben – zumindest als konsequent kurzweilige und bisweilen humorvolle, bildungsbürgerliche Unterhaltung.
Der lauteste Lacher des Films ist zwar einer, den wir exakt so in den vergangenen Jahren schon häufiger gesehen haben – manche im Kino, aber einige vielleicht sogar im realen Leben: Einer der selbst schon etwas älteren Erben weiß nicht, wie man Zoom richtig bedient – und erscheint deshalb als traurige animierte Katze in seinem Bildschirmfenster. Aber auch sonst steckt „Die Farben der Zeit“ voller kleiner Beobachtungen, die nicht sonderlich tiefgründig, aber doch amüsant sind. So stellt Klapisch seiner ständig Handyfotos schießenden Erbschafts-Reisegruppe eine Szene im Atelier des berühmten Fotografen Félix Nadar (Fred Testot) gegenüber, der seine Kundschaft nicht nur quälend lange Sekunden ermutigt, sich nicht zu bewegen, sondern sie auch noch mit den Worten verabschiedet, dass das Ergebnis wohl schon in zwei Wochen vorliegen würde.
Der Kutscher (Raphaël Thiéry), der die 21-jährige (!) Adèle das erste Stück des Weges nach Paris chauffiert, schwadroniert davon, dass die Kinder ja heute schon so früh selbstständig wären – das wäre ja zu seiner Zeit noch ganz anders gewesen. Die Zeiten ändern sich, aber wohl doch nicht so sehr, wie man immer glaubt. So ist es nur stimmig, dass sich eine Tür 2024 schließt und im nächsten Moment 1894 wieder öffnet – und als Adèle zum ersten Mal am Pariser Kai die Treppe in die Stadt hinaufsteigt und um die Ecke biegt, kommt uns aus derselben Richtung direkt ein Jogger im modernen Marathon-Outfit entgegen. Die Übergänge sind fließend, wobei die Vergangenheit – mit dem neugebauten Eiffelturm, den Anfängen der Elektrifizierung sowie dem extra zum Malen angelegten Garten von Claude Monet – zumindest in Sachen Schauwerten einen klaren Punktsieg davonträgt.
Fazit: Für Paris-Fans ein Muss – ansonsten so lala.
Wir haben „Die Farben der Zeit“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er außer Konkurrenz seine Weltpremiere gefeiert hat.