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    Die letzte Versuchung Christi
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Die letzte Versuchung Christi
    Von Ulrich Behrens

    „Die duale Substanz Christi – die Sehnsucht des Menschen, so menschlich und übermenschlich zugleich, Gott nahe zu kommen – war für mich schon immer ein tiefes, undurchdringliches Geheimnis. Die größte Qual und die Quelle all meiner Freuden und Schmerzen war für mich von Jugend an der unaufhörliche, erbarmungslose Kampf zwischen dem Geist und dem Fleisch ... und meine Seele ist die Arena, in der diese beiden Armeen aufeinander gestoßen sind und sich getroffen haben.“ (Nikos Kazantzakis)

    „Dieser Film basiert nicht auf den Evangelien, sondern auf dieser fiktionalen Erforschung des ewigen spirituellen Konflikts.“

    (Martin Scorsese)

    Jesus (Willem Dafoe) liegt am Boden. Es schmerzt ihn. Der Schmerz sitzt tief. „Mit einem Gefühl, ganz zart, ganz sanft, fängt es an. Und dann kommt der Schmerz, als ob mir [...] ein Vogel die Klauen in den Schädel schlägt, die Krallen graben sich ein. Kurz bevor sie meine Augen erreichen, lockern und lösen sie sich allmählich, und dann erinnere ich mich.“ Das zarte, sanfte Gefühl, die Rückbeziehung auf Gott, auf die Liebe, auf seine Liebe und die Liebe zu Gott beherrscht seine Sinne. Und dann kommt der Schmerz, so dass er sich krümmen muss – und erst dann kann er sich erinnern. Nikos Kazantzakis verfolgt in seinem (umstrittenen) Roman ein „Konzept“ des Lebens Jesus, dass anscheinend so ganz anders aussieht, als es die Evangelien nahe legen und insbesondere später die Kirche verfolgt hat. Jesus ist zuerst Mensch und dann Gottes Sohn. Er ist beides, einmal dies, dann das, dann beides zugleich. Aber vor allem ist es das Konzept der Erinnerung und damit der Historizität, der Rückversicherung des eigenen Lebens und des kollektiven Lebens, das Kazantzakis Roman wie Scorseses Film, der sich auf das Buch stützt und nur bedingt auf die Evangelien, bestimmt.

    Erinnerung ist kein funktionaler, mechanischer Vorgang, keiner, der Informationen „abruft“, „speichert“ wie ein Computer. Erinnerung ist ein konstitutives Element unserer individuellen wie sozial vermittelten Subjektivität. Sie vor allem speist das, was wir das Bewusstsein unser selbst, unsere Individualität in einer sozial verhafteten Welt, unser So-Sein und unser Nicht-So-Sein nennen. Erinnerung ist vor allem Unterscheidungsvermögen und qualitative Unterscheidung in Bedeutsames und Unwichtiges. Das, was für uns Bedeutung hat, ist kulturell wie individuell konstitutiv für unsere Subjektivität.

    Für Jesus verdoppelt sich dies, weil er Mensch und Gottes Sohn zugleich ist. Aber Religion, also Rückbezug, ist – neben der (personellen) Konstruktion eines allmächtigen Schöpfers – eben auch Rückbezug auf das Allgemeine, das Konstitutive der Gesellschaft und ihres historischen und kulturellen Werdens. Erinnerung ist nicht nur positiv; Erinnerung kann schmerzen und schmerzt.

    Scorsese visualisiert einen Christus, der – stellvertretend für alle Menschen – nicht nur nach Gottes Willen die Schuld aller auf sich nimmt und dafür am Kreuz stirbt. Dieser Christus ist auch die Verallgemeinerung des Menschen und dabei doch auch jedes konkreten Menschen. Er baut Kreuze für die Römer, trägt sie nach Golgatha, der Schädelstätte, und an seinen Kreuzen sterben die von den Römern Verurteilten. Jesus nimmt vorweg, was ihm selbst passieren wird. Er lädt Schuld auch sich. Die Schuld, Ausdruck der Unvollkommenheit aller Menschen, ist Teil dieses Jesus wie jedes anderen Menschen. Die Zartheit und der Sanftmut der Liebe hier, der Schmerz der Schuld dort: beides droht den Gottes- und Menschensohn zu zerreißen. Beides verkörpert sich in Gott und Satan. Die Unschuld, verflogen nach der Vertreibung aus dem Paradies, das absolut Gute spaltet sich in Gut und Böse. Was treibt diesen Jesus – Gott oder Satan? Gott, antwortet er seiner Mutter Maria (Verna Bloom), und sie fragt ihn, ob er sicher sei, ob es nicht Satan sei, der ihn treibe. „Ich bin mir dessen nicht sicher“, antwortet er Maria. „Ich bin mir ganz und gar nicht sicher.“ Sicher ist nur, dass der Zweifel Jesus beherrscht. Warum gibt ihm Gott nicht die Sicherheit, die er so dringend benötigt, um das Himmelreich auf Erden zu schaffen? Er provoziert Gott aus dieser Verzweiflung und Angst heraus, indem er Kreuze für die Römer zimmert.

    Die Unsicherheit, Ausdruck der Verdopplung von Jesus als Gottes Sohn und Menschensohn, verleitet ihn dazu, Gottes Liebe immer wieder zu verfluchen. „Gott liebt mich. Ich weiß, er liebt mich. Ich ertrage den Schmerz nicht. [...] Er soll mich hassen. Ich bekämpfe ihn. Ich zimmere Kreuze, damit er mich hasst. Damit er einen anderen findet. Ich will jeden seiner Erlöser kreuzigen.“

    Die Angst ist Jesus Gott. Die Angst und der Zweifel. Und er wundert sich selbst über seine Wunder, etwa wenn er den toten Lazarus (Tomas Arana) wieder zum Leben erweckt oder wenn er einen Blinden wieder sehend macht.

    Scorsese und Kazantzakis konstruieren einen Jesus, dessen Menschsein nicht vernachlässigt wird. Sie zeigen jedoch auch in den anderen biblischen Gestalten andere Menschen als gewohnt. Judas (Harvey Keitel), mit knallrotem Haar, ist der Revolutionär, der, der mit Saulus (Harry Dean Stanton) die irdische Rebellion, den Umsturz, den Kampf gegen die Römer auf ihre Fahnen geschrieben hat. Judas ist nicht der Verräter, der Jesus für ein paar Silberlinge an die Römer ausliefert. Nein, dieser Judas ist der vertrauteste Jünger Jesus, der, der Jesus kritisiert, weil er nicht zum Aufstand aufruft, sondern die Seele der Menschen befreien will, der jedoch gleichzeitig mit ihm geht, die Wucherer aus dem Tempel vertreibt, und der auf Geheiß Jesus die römischen Soldaten zu ihm führt, als Jesus Gottes Willen erkannt hat, dass er am Kreuze sterben soll.

    Oder Johannes, der Täufer, (Andre Gregory) der Jesus davon überzeugen will, dass Liebe allein nicht ausreicht, um das irdische Jammertal zu bekämpfen. „Ungerechtigkeit kann ich nicht lieben“, sagt er zu Jesus. Auch das Konzept des Satans ist kein Konzept des Bösen schlechthin. In der Wüste zieht Jesus einen Kreis, und dort, in der Einsamkeit, die auch für die Einsamkeit des Menschen steht, begegnet ihm Satan in Gestalt der Schlange, die ihm rät: Rette dich selbst, nimm dir eine Frau, gründe eine Familie; in Gestalt des Löwen, der ihm rät: Rette die Welt, ergreife die Macht; und in Gestalt des Feuers, das ihm sagt: Setz dich auf den Thron und setze mich daneben. Und dann erscheint ihm Johannes, der Täufer, und spricht: Nimm diese Axt und trage die Botschaft zu den Menschen.

    In diesen Worten erkennt Jesus die Hilflosigkeit, der er ausgesetzt ist. Wie rette ich die Welt? Wie rette ich die Menschen? Sollen sie alles umstürzen, was Ungerechtigkeit erzeugt? Sollen sie sich ihre Seele befreien statt Krieg gegen die Ungerechtigkeit zu führen? Was soll er tun, dieser Jesus? Er predigt. Doch seine Predigten, vehement und zugleich fast flehend vorgetragen, bringen ihm nur wenige Anhänger. Selbst in diesen Predigten ist er nicht nur Gottes Sohn, sondern Mensch aus Fleisch und Blut.

    Hin- und hergerissen zwischen äußerem und inneren Aufstand, zwischen Revolution und Reinigung der Seele, zwischen Gott und Satan, erkennt er schließlich, dass sein Tod am Kreuz Gottes Willen ist – als Ausdruck nicht nur der Schuld aller Menschen, sondern als Zeichen der Sühne für alle anderen. Am Kreuz träumt er ein letztes Mal vom irdischen Dasein, verführt von Satan in Gestalt eines Engels (Juliette Caton), führt ein Leben mit Maria Magdalena (Barbara Hershey) und dann mit Maria (Randy Danson), der Schwester des Lazarus bis zur Zerstörung von Jerusalem. Ein letzter Traum vom irdischen Leben.

    „Es ist vollbracht“ – diese letzten Worte von Jesus vor dem Tod am Kreuz, erhalten nicht nur durch diesen Traum eine andere Bedeutung, als ihnen normalerweise beigemessen wird. Der Tod Jesus ist der Tod nicht nur von Gottes Sohn, sondern auch der Tod eines Menschen. Die Fleischeslust – symbolisiert durch eine Szene im Traum, in der Jesus mit Magdalena schläft –, ja die Lebenslust schlechthin, und die Erhabenheit des Geistes sind zu gleichen Teilen konstitutiv auch für das Leben Jesus. Diese Entzauberung des kirchlichen Jesus, ja, diese Ent-Ideologisierung von Christus widerspricht vielleicht der katholischen oder überhaupt kirchlichen Dogmatik, aber nicht dem Glauben, wie einige fundamentalistische Kritiker des Films behaupteten. Sie zeigt die wahrscheinlich unauflösliche Dualität menschlichen Strebens nach Vollkommenheit (gleich: Gott-Gleichheit), nach transzendentaler Rückbeziehung, hier und der Unvollkommenheit, das heißt Schuld menschlichen Daseins, dort. Das Gute und das Böse erscheinen nicht als zwei getrennte Welten, sondern als zwei Seiten menschlichen Daseins. Gott und Satan sind nicht Ausdruck von absolut reiner Seele hier und absoluter Lustbesessenheit dort, sondern werden als zwei unabdingbare, sich ergänzende Eigenschaften visualisiert. In dieser Dualität als Einheit von Widersprüchlichem geht Jesus seinen schmerzhaften Weg. Sein Tod am Kreuz ist so nichts anderes als symbolischer Ausdruck für das Leben aller Menschen.

    Ganz anders als Gibsons „The Passion of the Christ“ (2004), der aus Jesus eine ideologische Figur im Sinne einer fundamentalistisch verstandenen sektiererischen, politischen Glaubensrichtung zimmert, lässt Scorseses „Die letzte Versuchung Christi“ alles offen. Der Film verführt, ja zwingt zum Nachdenken über die Dualität unseres Daseins zwischen Gut und Böse, Schuld und Vergebung. Er taugt eben gerade deswegen nicht nur für Menschen mit Glauben, sondern auch für Nicht-Gläubige.

    Die Inszenierung besticht zudem durch karge und doch wunderbare, ja satte (von Michael Ballhaus fotografierte) Bilder einer natürlichen und kulturellen Landschaft, die nur scheinbar der Gegenwart so fern ist, durch eine Darstellung von Jesus durch Willem Dafoe, die jedem Postkarten-Christus absolut fern ist, und nicht zuletzt durch eine Musik von Peter Gabriel und Shankar, die der Atmosphäre des Gezeigten zusätzliches Gewicht verleiht. „The Last Temptation of Christ“ ist ein wunderbarer, zarter, ja zärtlicher und zugleich schmerzhafter (gelungener) Film, der – abseits jeder Hollywood-Manierismen – berührt und besticht. Ein weiteres Mal bewährte sich die Zusammenarbeit zwischen Scorsese und Paul Schrader, der auch die Drehbücher für „Wie ein wilder Stier“ (1980) und „Taxi Driver“ (1976) geschrieben hatte (ebenfalls auch das Drehbuch zu Scorseses „Nächte der Erinnerung“, 1999).

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