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    Dummer Junge
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Dummer Junge
    Von Jörn Schulz

    Wer kennt das nicht: Pubertät ist die Zeit der ersten Male und des Rumprobierens aber auch eine Zeit der Unsicherheiten. Wer bin ich, wer will ich sein, wohin will ich gehen, sind nur einige der quälenden Fragen, mit denen man sich als heranwachsender Jugendlicher beschäftigt. Der Eine mehr, der Andere weniger. Auch die Frage nach der sexuellen Vorliebe stellen sich viele in diesem Lebensabschnitt. In seinem Erstlingsspielfilm „Dummer Junge - Garçon Stupide“ hat Regisseur Lionel Baier diese Suche nach Identität filmisch umgesetzt und sich dabei einer Mischung aus Doku- und Selbstfindungsdrama bedient. Der dabei entstandene Film ist künstlerisch ansprechendes Arthouse-Kino und – zum Ende hin – willkürlich zusammengewürfelt wirkende und somit recht schwer verdauliche Kost zugleich.

    Jung sein bedeutet, die Freiheit zu haben, Dinge ausprobieren zu dürfen. Das denkt sich auch Loïc (Pierre Chatagny), ein 20-jähriger Spätpubertierender aus dem schweizerischen Bulle, der seine Homosexualität voll auslebt. Eigentlich scheint er relativ fest im Sattel des Lebens zu sitzen. Er hat einen Job in einer Schokoladenfabrik und verdient Geld. Außerdem trifft er sich am Wochenende mit seiner alten Schulfreundin Marie (Natacha Koutchoumov), um mir ihr zu quatschen, weil er sich emotional – aber keinesfalls körperlich – zu ihr hingezogen fühlt. Auch sexuell ist er voll beschäftigt. Unter der Woche treibt er sich in den Betten anderer Männer herum, die er übers Internet kennen lernt und die den jungen Mann gelegentlich für seine Liebesdienste bezahlen. Doch so recht zufrieden ist Loïc mit sich nicht. In seiner Allgemeinbildung klaffen Lücken so groß wie der San-Andreas-Graben und der Versuch impressionistische Fotos mit seinem Handy zu machen, trifft auf geteilte Meinungen. Eines Tages jedoch begegnet er Lionel (gespielt vom Regisseur Lionel Baier selbst), der keinen Sex von ihm will, sondern nur viele Fragen stellt. Diese veranlassen Loïc über seinen Lebensstil und den Weg, den er geht nachzudenken. Durch plötzliche und einschneidende Ereignisse verlässt Loïc sein bisheriges Leben, um sich selbst und seinen ganz eigenen Weg zu finden.

    „Dummer Junge - Garçon Stupide“ ist direkt wie die Realität. Die fast dokumentarisch wirkenden Interviewszenen zwischen Loïc und Lionel – Lionel filmt die Treffen mit einer Handkamera ist selbst aber nicht zu sehen – und die harten Schnitte unterstreichen den realistischen Charakter des Films. Auch der zweite Teil der Handlung, Loïcs Leben abseits der Treffen mit Lionel, wird meist mit einer wackligen Handkamera eingefangen, was letztlich sehr lebendig aber nie übertrieben wirkt. Um Loïcs vielfältige, sexuelle Aktivitäten verdichtet darzustellen, wird das Bild zwischenzeitlich immer wieder geteilt. Auf dem Splitscreen werden mal verschiedene, mal zeitlich versetzte Sexszenen eingeblendet, was oft in einer Bilderüberflut endet. Sehr übersichtlich ist das zwar nicht, stellt aber funktional das aktive Sexleben Loïcs dar.

    Sehr explizit und somit nahe an der Wirklichkeit daran sind auch die Sexszenen. Ob Anal, Oral oder Fetisch – der Film lässt kaum etwas aus. Was einige als Provokation sehen würden, ist letztlich der Anspruch des Regisseurs, eine unzensierte Geschichte für Erwachsene zu produzieren. Baier beschreibt seine Philosophie dahinter wie folgt: „Wie bei allen 20-Jährigen spielt Sexualität auch in Loïcs Kopf eine wichtige Rolle. Es interessiert mich nicht, einen Geschlechtsakt inklusive Blow-Job in Großaufnahme zu zeigen, nur um zu beweisen, dass man es gewagt hat. Das hat so etwas Performatives, das ich ziemlich überflüssig finde. Der Sexualität sollte man auf der Leinwand ihren Platz einräumen, oder sonst, mit Verlaub, besser schweigen. Das gilt für alle Gesellschaftsthemen.“

    Zum Ende hin verliert sich die Handlung des Films in unschlüssig wirkenden Einzelszenen. So baut Loïc mit Maries Auto einen Unfall und trifft kurz danach den Fußballstar Rui (Rui Pedro Alves), den er anhimmelt. Darauf hin verbringt er mit ihm und seinem Sohn den Tag in einer idyllischen Berglandschaft. Überstrahlte Bilder zeugen von einem der glücklichsten Momente in Loïcs Leben. Dann wiederum fährt er in einem Auto zurück nach Hause, wobei in dieser Sequenz nichts weiter passiert, als dass der Fahrer ungeschickt nach der Packung mit den schweizerischen Hustenbonbons greift, die für einige Augenblicke sehr offensichtlich ins Bild ragt. Wozu das? Kitschig auch eine der letzten Szenen, in der Loïc auf einem Jahrmarkt in ein Riesenrad steigt und dort Lionel erblickt. Bei Weichspülermusik und Slowmotion trieft der Schmalz. Stark hingegen aber ist Loïcs letzter Monolog, in dem er sich dem annähert, was er sein will, indem er sich vom dem abgrenzt, was er nicht sein möchte. Ein Schwuler, ein Globalisierungsgegner, ein Christ, ein dummer Junge ...

    Loïcs Portrait, die Geschichte eines Jungen, der sich seiner sexuellen Identität sicher zu sein glaubt, der jedoch doch durch diverse Ereignisse in seinem Leben wankelmütig wird und an seiner Identität zweifelt, ist in „Dummer Junge - Garçon Stupide“ filmisch ansehnlich umgesetzt worden. Die schauspielerische Debütleistung von Pierre Chatagny (Loïc) überzeugt; Natacha Koutchoumov (Marie) spielt die beste Freundin gekonnt. Etwas mehr Schlüssigkeit hätte der zweiten Hälfe sicher nicht geschadet, wobei der Film insgesamt trotzdem beeindruckt.

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