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    Lost children
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Lost children
    Von Nicole Kühn

    Sie sind jung, Kinder noch, und haben schon so viel mehr an absurder Grausamkeit erlebt als die meisten Menschen es in ihrem gesamten Leben jemals müssen. In Uganda tobt seit fast 20 Jahren ein Krieg, der an Zynismus kaum zu überbieten ist. Wie in jedem Krieg sind weniger diejenigen die Leidtragenden, die ihn anheizen, sondern Menschen, die am liebsten nichts mit ihm zu tun haben möchten: Frauen, Familien und vor allem Kinder. Der Krieg wird dabei von einem gesellschaftlichen zu einem privaten Phänomen, der nicht nur physisch, sondern vor allem auch psychisch Leben zerstört. Das schildert die packende und verstörende Dokumentation „Lost Children“.

    Afrika ist weit weg für den durchschnittlichen Europäer, und so erfährt man hier auch nur in blitzlichtartig aufflackernden Schlagzeilen von dortigen Krisen und Kriegen. Ist der Neuigkeitsfaktor weg, verschwindet der Kontinent wieder aus dem öffentlichen Interesse. Die beiden Filmemacher Oliver Stoltz und Ali Samadi Ahadi geben mit ihrem Film den Menschen Raum und Zeit, ihre ganz persönliche Geschichte aus dem Krieg zu erzählen. Es sind Menschen, die man unter normalen menschlichen Umständen als Opfer verschonen würde, weil sie noch kaum Schuld auf sich geladen haben können – hier erzählen sie, wie sie zu Tätern wurden und wie sie mit den persönlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen umgehen. Keiner von ihnen ist freiwillig in den Krieg gezogen, keiner fühlt sich als Held, vielmehr steht ihnen allen die Bestürzung über die eigenen Handlungen und die gleichzeitige Verzweiflung darüber ins Gesicht geschrieben.

    Da ist z. B. der 12-jährige Francis, der anderen Kindern beim Töten zusehen musste. Die Hinrichtung von zwei Jungen macht allen Kindersoldaten klar, dass ihnen die gleiche Strafe droht, wenn sie einen Fluchtversuch wagen. Zu seiner Familie kann er nicht zurück, wie viele Kindersoldaten. Zum einen besteht dort die Gefahr, wieder von den Rebellen entführt zu werden, zum anderen haben viele Familien Angst vor ihren eigenen Kindern angesichts der Greueltaten, die diese begangen haben. So ist vielen, wie Francis, klar, dass er nach seinem Neubeginn nicht über seine Vergangenheit wird sprechen können. Fünf ganze Jahre hat die 14-jährige Jennifer bei den Rebellen zugebracht. Etliche Schusswunden erzählen von ihrem Dasein als Kämpferin, die Wunden, die ihr durch Vergewaltigungen zugefügt wurde, bleiben unsichtbar. Über ihr weiteres Schicksal darf sie als Mädchen nicht selbst entscheiden, sondern muss sich dem Willen ihres Vaters anvertrauen. Kilama wird mit seinen 13 Jahren von Alpträumen geplagt, in denen er immer und immer wieder nacherlebt, wie er vor den Augen eines anderen Kindes dessen Mutter erstechen musste. Nach einem Reinigungsritual sind seine Verwandten weiterhin misstrauisch, und so findet er ein neues Zuhause in einem Kinderheim. Auch Opio, gerade mal acht Jahre alt, hat Menschen umgebracht. Eine Rückkehr zur Familie wäre für alle eine Bedrohung. Was er getan hat, kann er mit seinem Verstand gar nicht wirklich erfassen. Nach einem Überfall auf das Flüchtlingslager seiner Eltern verschwindet Opio und keiner weiß, ob er erneut entführt oder ermordet wurde.

    Die vier porträtierten Kinder stehen exemplarisch für mehr als 300.000 Kinder weltweit. Gefunden haben Stoltz und Ahadi die Kinder in einem Auffanglager der Caritas International für geflohene Kindersoldaten in der Siedlung Pajule in Nord-Uganda. In diesem Rebellengebiet sind die Milizen der fanatisch religiösen LRA (Lord’s Resistance Army) häufig unterwegs und jeder, der hier lebt und arbeitet tut dies unter ständiger Bedrohung.

    Ohne sich an grausigen Verstümmelungen zu weiden, zeigt „Lost Children“ schonungslos die Brutalität, die hier zur Alltäglichkeit geworden ist, zum Glück jedoch nicht zur resigniert akzeptierten Normalität. Zart besaitete Gemüter werden damit an den Rand der Belastbarkeitsgrenze geführt. Es ist jedoch auch ein Stück Ehrlichkeit des Films, diese Bilder nicht auszublenden. Ganz bewusst schenken die Filmemacher den Ursachen und Gründen für diesen Krieg kein gesteigertes Interesse, denn Hintergründe für Kriege sind immer zu finden und selten zu verstehen.

    Worauf sie den Fokus legen ist die Tatsache, dass egal warum und wo ein Krieg geführt wird der Mensch zu Unmenschlichem fähig und gezwungen wird. Der Konflikt in Uganda macht darüber hinaus aber auch deutlich, dass mit reinem Gutmenschentum niemanden geholfen ist. Hilfe kann nur dann wirken, wenn sie die Gesellschaft und ihre Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt. Das fällt nicht immer leicht, wie fast alle dargestellten Fälle zeigen. Die Sozialarbeiter vor Ort fügen sich den Gepflogenheiten, auch wenn es ihnen selbst nicht immer leicht fällt. So muss Grace erst mit den Eltern von Jennifer übereinkommen, dass das Mädchen mit der Erlaubnis des Vaters zur Mutter darf. Das Wort des Vaters ist hier Gesetz. Auch das Ritual für Kilama befremdet, wenn der Junge eine Ziege schlachten muss, um von seinen Alpträumen vom Töten befreit zu werden und anschließend von der Dorfgemeinschaft die Innereien der Ziege gedeutet werden. Für die Akzeptanz in der Bevölkerung und damit eine langfristige Erfolgsaussicht ist es jedoch notwendig, deren Mechanismen zu respektieren. Die schwierigen Umstände und das Wissen, dass trotz aller Bemühungen die gesamte Gesellschaft bis ins Mark erschüttert ist und ein Ende des Krieges noch lange kein Ende des Leides bedeutet.

    Mit „Lost Children“ legen Stoltz und Ahadi ein eindringlichen und verstörenden Film vor, der ohne Effekthascherei ein Problem in aller Konsequenz ins Bewusstsein rückt. Die Montage macht es manchmal schwierig, die Geschichte der einzelnen Personen im Einzelnen nachzuvollziehen, was vielleicht so beabsichtigt ist. Schließlich geht es nicht konkret um die gezeigten vier Kinder, sondern um viel mehr. Weil der Film allein den Zuschauer in einer hilflosen Betroffenheit zurücklässt, darf und sollte man darauf hoffen, dass er eine umso intensivere öffentliche Diskussion anregt. Ein erstes, wenn auch nicht ganz unumstrittenes Zeichen in diese Richtung sind die ersten Haftbefehle, die der Weltstrafgerichtshof jüngst erlassen hat: sie zielen auf Anführer der ugandischen Rebellen.

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