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    Deadpool
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Deadpool
    Von Christian Horn

    Ist er ein Mutant? Ein Superheld? Ein Antiheld? Egal. Denn was können ein CGI-Langweiler (Effektspezialist Shaun Friedberg), ein überbezahlter Honk auf dem Regiestuhl (Tim Miller), eine scharfe Frau (Morena Baccarin) und eine Nervensäge (Ryan Reynolds) schon leisten? Dass das Personal der heiß ersehnten Comicadaption „Deadpool“ im Vorspann wie beschrieben veräppelt wird, weist von vornherein den Weg: Die konsequent durchgehaltene (Selbst-)Ironie und die unmissverständlich exponierte Meta-Ebene nutzen die Filmemacher dazu, sich unerhörte Freiheiten herauszunehmen - selbst die dümmsten Ideen und die fragwürdigsten Entgleisungen sind ja schließlich nicht ernst gemeint (oder doch?). Die Drehbuchautoren Paul Wernick („Zombieland“) und Rhett Reese („Zombieland 2“) sowie Regisseur Tim Miller, der hier nach zwei Kurzfilmen sein Langfilmdebüt vorlegt, eignen sich den respektlos-provokanten, oft auch zynischen Tonfall der Comics konsequent an, da sind Missverständnisse vorprogrammiert. Ihr „X-Men“-Spin-off „Deadpool“ schwankt mit seinem Titelhelden zwischen den Polen „pubertär“ und „genial“, aber dass Miller, Reynolds und Co. bewusst in Kauf nehmen, auch mal übers Ziel hinauszuschießen, macht den Film erst so lebhaft und reizvoll. So dürfte dieses kurzweilig-kontroverse neue Kapitel aus der großen studioübergreifenden Marvel-Kino-Saga kaum jemanden kaltlassen.

    Wade Wilson (Ryan Reynolds) ist als Ex-Mitglied einer Spezialeinheit und knallharter Söldner ein echter Teufelskerl. Als er sich Hals über Kopf in die Prostituierte Vanessa (Morena Baccarin) verliebt, scheint zunächst alles auf ein Happy End zuzusteuern. Doch dann erhält Wade eine unschöne Diagnose: unheilbarer Krebs. Im Labor des Psychopathen Ajax (Ed Skrein) setzt sich Wade einer brutalen Prozedur aus, die ihm übermenschliche Selbstheilungskräfte verleiht. So besiegt er nach einigen Qualen zwar den Tumor, muss fortan aber mit einem entstellten Gesicht leben, das er den unmenschlichen Foltermethoden von Ajax zu verdanken hat. Bevor Wade sich dermaßen hässlich seiner Geliebten zeigt, kleidet er sich lieber als Deadpool in einen rot-schwarzen Superheldendress, bei dem vor allem die Maske ihren Zweck erfüllt. Voller Hass sucht er Ajax, der seine Vernarbungen entfernen und sterben soll, weil er eben ein Bösewicht ist. Der gutmütige X-Man Colossus (Stefan Kapicic) will Deadpool zwar von friedlichen Lösungen überzeugen, steht ihm im Ernstfall aber ebenso zur Seite wie die pubertierende Mutantin Negasonic Teenage Warhead (Brianna Hildebrand).

    „Ich freue mich riesig auf „Deadpool“ und kann es kaum erwarten. Er ist mein Lieblingsheld von Marvel, weil er eben so ganz anders ist als die anderen.“

    Wer die Kommentarspalten hier bei FILMSTARTS, aus denen wir in dieser Kritik zwischen den Absätzen zitieren, für bare Münze nimmt, könnte glauben, dass jeder zweite Kinofan die „Deadpool“-Comicreihe komplett gelesen hat und grenzenlos bewundert. Doch ähnlich wie die Guardians of the Galaxy oder Ant-Man gehört auch Deadpool eher zu den Superhelden aus der zweiten Reihe, wobei die entsprechenden seit 1997 (erster Deadpool-Auftritt: 1991 im „X-Men“-Ableger „New Mutants“) publizierten Comics vor allem unter Kennern leidenschaftliche Anhänger haben. Der gern gezogene Vergleich zu „Watchmen“ ist jedenfalls durchaus nachvollziehbar: In vielerlei Hinsicht ist „Deadpool“ tatsächlich so etwas wie eine rotzfreche Teenager-Variante von Alan Moores gefeierter Graphic Novel. Und ihr größter Trumpf ist der durch und durch unkorrekte Titelheld, von dem die Fans eine ganz eigene Vorstellung haben.

    „Ryan Reynolds als Deadpool?! Toll, ich hatte mich so auf den Film gefreut...“

    „Wie hab ich nur einen eigenen Film bekommen?“ Diese direkt ans Publikum gerichtete Frage, die Ryan Reynolds alias Wade Wilson am Anfang von „Deadpool“ stellt, ist natürlich rhetorisch und gilt insbesondere den Kritikern an der Besetzung. Zwar ist Reynolds als Green Lantern gescheitert und auch sein erster Gastauftritt als Deadpool in „X-Men Origins: Wolverine“ (2009) wurde reserviert aufgenommen, doch die Produzenten sind von der Wahl ganz offensichtlich überzeugt und können sich das vermeintliche Wagnis allemal leisten. So erklärt Deadpool dann auch augenzwinkernd, dass er bloß keinen Superheldenanzug tragen will, der grün oder animiert ist – wie das unglückselige Outfit aus „Green Lantern“. Aus dem Protagonisten wird gerade durch die Besetzung ein Anti-Held, der sein Image nicht nur reflektiert, sondern selbst bestimmen will. Und außerdem:

    „In den Comics sagt Deadpool selbst manchmal, dass er aussieht wie Ryan Reynolds, deshalb finde ich die Wahl gar nicht mal so schlecht“

    Ryan Reynolds ist nicht nur wegen seines Äußeren und seiner Superheldenvergangenheit tatsächlich eine gute Besetzung, sondern auch weil er es schafft, trotz aller ironischen Posen und bösen Kommentare im ständigen Zwiegespräch mit dem Publikum die aus Selbstschutz gut versteckte verletzliche und menschliche Seite der Figur mitschwingen zu lassen. Er sorgt für die Verankerung in echten und ernst gemeinten Emotionen, die dem Film als Ganzes ein wenig fehlt. Regisseur und Autoren sorgen lieber für eine wahre Lawine an Anspielungen: Da gibt es Anklänge an „Watchmen“ und „Batman & Robin“, an die Kostümfindung aus „Spider-Man“, aber auch Zitate und Referenzen zu „Matrix", „Nightmare On Elm Street“, „Alien 3“ oder „Old Boy“. Die Bezüge zu anderen Filmen, Comics und Popkulturphänomenen werden ähnlich wie etwa in James Gunns „Super“ mit dem Vorschlaghammer serviert und sind meist nicht mehr als vergnügter Selbstzweck, aber dafür macht „Deadpool“ einen Heidenspaß – unter der Voraussetzung, dass man die teils grobschlächtigen und diskutablen Scherze nicht in den falschen Hals bekommt.

    „Furchtbar schlechte Schauspielerin, die kann echt gar nichts. Aber schöne Brüste...“

    Manchmal sind die Gags in „Deadpool“ jungenhaft-lustig, beispielsweise wenn sich der Held für einen harten Arbeitstag mit Onanie belohnen will („Heute Abend mach ichs mir selbst!“), manchmal einfach nur plump, wenn er sich etwa über den Geruch des Intimbereichs einer „dicken Alten nach zwei Stunden Sport“ mokiert. Der auffällig sexuell aufgeladene Grundton des Films mündet im Übrigen in eine der zeigefreudigsten Sexszenen der bisherigen Comicfilmgeschichte: Wade und Vanessa zelebrieren ihre junge Liebe mit allen möglichen an Feiertage wie Ostern oder Thanksgiving angelehnten Variationen - besonders was die Expertin Vanessa am „Weltfrauentag“ mit ihrem Lover anstellt, ist ausgefallen. In dieser erstaunlich expliziten Sex-Montage werden nicht nur Morena Baccarins („Homeland“) Hintern und Oberkörper prominent ins Bild gerückt, sondern auch der Allerwerteste von Ryan Reynolds kommt gut zur Geltung. Die ganze Szene endet schließlich mit einem ehrlich gemeinten „Ich liebe dich“, das Wade an Vanessa richtet. Die kommt im Verlauf der Handlung allerdings auch gut ohne ihren Freund aus, der von der Bildfläche verschwindet, weil er sich als entstelltes „Biest“ zu hässlich für die „Schöne“ findet. Und letztlich ist es dann auch Vanessa, die sich Deadpool „schön saufen“ will, was von Baccarin mit genau der richtigen Mischung aus Ironie und Grausamkeit gespielt wird. Das ganze (doppelbödige) Getue rund um Äußerlichkeiten und Attraktivität hat in „Deadpool“ nichts von dem Sexismus des obigen Zitats - im Gegenteil.

    „Reynolds überhaupt nicht hübsch - Action überhaupt nicht PG13 - Jokes überhaupt nicht sauber --> LÄUFT :P“

    Auch inszenatorisch überzeugt „Deadpool“, hier trifft das entsättigte Blau-Grau von „Heat“ oder „The Dark Knight“ auf die Neonfarben der „Avengers“, comichafte Stilisierung auf düsteren Realismus. Es ist sicher auch dem vergleichsweise kleinen Budget von 50 Millionen US-Dollar geschuldet, dass die Actionszenen kompakter und karger ausfallen als in anderen Marvel-Filmen, aber diese Konzentration aufs Wesentliche ist eine willkommene Abwechslung zu den Exzessen in „Man Of Steel“, den tumben Kloppereien in „The Dark Knight Rises“ oder den epischen Endschlachten von „Avengers: Age Of Ultron“ oder auch „Der Hobbit: Die Schlacht der Fünf Heere“. Bei der finalen Auseinandersetzung in „Deadpool“ ist alles eine Nummer kleiner und trotzdem kommt alles zusammen, was eine gute Actionszene auszeichnet: Dynamik, Emotionen, Humor und vor allem eine geradezu altmodische räumliche und erzählerische Übersichtlichkeit. Die Figuren mögen keine ausgefeilten Hintergrundstorys haben und ihre Motivationen oft unklar bleiben (vor allem beim Bösewicht Ajax), aber man weiß immer, wer hier wem die Visage polieren will und warum. Und dabei wird herzhaft-brutal zugelangt. 

    „Wenn das ein PG-13 Film wird, dann kann der einfach nicht gut werden. Lasse mich aber gerne überraschen.“

    Die Filmemacher haben darauf verzichtet, „Deadpool“ wie von vielen Fans befürchtet familienfreundlich zurechtzustutzen, in Deutschland hat er eine FSK-16-Freigabe erhalten und die ist auch bitter nötig. Tim Miller legt nämlich nicht nur eine Mischung aus Superheldenstory und „Crazy People in Love"-Liebesgeschichte vor, sondern auch einen Horrorfilm. Und bisweilen kippt die Ironie in reinen Zynismus, insbesondere bei einer Folterszene, die in ihrer Intensität an „Zero Dark Thirty“ gemahnt: Gemeint ist Deadpools Superhelden-Werdung in Ajax' Labor, wo er aufs Übelste gefoltert wird. Zunächst macht man sich dort über Folterpraktiken wie Waterboarding lustig, was, gelinde gesagt, geschmacklos ist. Doch dann wechselt Regisseur Tim Miller den Tonfall und die miesen Methoden des Laborleiters (Stichwort: Luftentzug) wirken plötzlich genauso brutal, wie sie wirklich sind. Einerseits werden die Foltermethoden als Teil der (Pop-)Kultur behandelt und in Unterhaltung verwandelt, was zumindest fragwürdig ist, andererseits wird ihre Brutalität nicht beschönigt. Damit lädt der Film durchaus zur Diskussion ein, auch wenn der oft sehr augenzwinkernde und wenig reflektierte Umgang mit der Gewalt im ganzen Film insgesamt sicher nicht jedermanns Sache ist.

    Fazit: „Deadpool“ ist eine selbstreflexive und provokante, ungezogene und extrem unterhaltsame Comicverfilmung mit einem kontroversen Helden, der im Heer der üblichen gelackten Supermänner geradezu exotisch anmutet.

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