Alpha
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
1,5
enttäuschend
Alpha

Der Fluch der Goldenen Palme

Von Christoph Petersen

Eine Goldene Palme aus Cannes bringt es auf circa vier Kilogramm. Aber auf den Schultern von jemandem, der das bedeutendste Filmfestival der Welt gewonnen hat, kann sie natürlich noch sehr viel schwerer wiegen. „Alpha“ ist nun ein besonders krasses Beispiel für einen Film, der unter der Last, etwas ganz Großes, Wuchtiges und Außergewöhnliches sein zu müssen, komplett zusammenbricht. Die Französin Julia Ducournau hat mit ihrem Coming-of-Age-Kannibalinnen-Horror „Raw“ eines der vielversprechendsten Regiedebüts der letzten 25 Jahre vorgelegt – und dann mit ihrem Frau-vögelt-Cadillac-Mindfuck „Titane“ direkt den Hauptpreis in Cannes abgeräumt. Absolut verständlich, dass man nach diesem singulären Doppelschlag zum Karriereauftakt nicht einfach irgendeinen Film nachschieben will.

Der schiere Druck, mit dem Ducournau an diesem Projekt gearbeitet haben muss, ist in jeder einzelnen Szene ihres (Horror-)Dramas zu spüren. Aber die ständige Überspannung erhöht nicht etwa die Intensität, sondern macht das Anschauen zu einer regelrechten Qual: Wenn selbst in ruhigeren Szenen der Ton einfach soweit aufgedreht wird, dass man sich im Kinosaal nur noch die Ohren zuhalten will, dann ist das weniger wagemutige Regiekunst als schiere Verzweiflung. Ähnliches gilt für den Plot, der die AIDS-Epidemie der späten Achtzigerjahre als Body Horror neu denkt, dabei aber dermaßen überfrachtet daherkommt, dass der Film selbst die Hälfte seiner Handlungsstränge irgendwann einfach vergisst – und sich auch der verbliebene Rest immer mehr zu einem inkohärenten Schlamassel entwickelt.

Inmitten eines Wüstensandsturms kullert Alpha (Mélissa Boros) eine einzelne rote Träne die Wange herunter. Diaphana
Inmitten eines Wüstensandsturms kullert Alpha (Mélissa Boros) eine einzelne rote Träne die Wange herunter.

Die 13-jährige Alpha (Mélissa Boros) lebt alleine mit ihrer namenlos bleibenden Mama (Golshifteh Farahani), die als Ärztin alle Hände voll zu tun hat, seitdem eine – ebenfalls namenlos bleibende – Pandemie für überfüllte Krankenhäuser sorgt: Die Körper der Betroffenen mineralisieren sich zunehmend, bis sie buchstäblich zu Marmor werden. Ihr Blut ist dann ebenfalls nicht länger flüssig, sondern gleicht dem roten Wüstensand, der von den ständigen starken Stürmen aus Afrika bis in die französische Hafenstadt Le Havre getragen wird.

Als sie auf einer Party betrunken das Bewusstsein verliert, wird Alpha von einem Unbekannten mit einem selbstgebastelten Stichwerkzeug ein großes „A“ in den Oberarm tätowiert. Dass sich die Wunde entzündet und immer wieder zu bluten beginnt, ist dabei aber gar nicht das größte Problem. Vielmehr macht sich ihre Mutter große Sorgen, dass sich Alpha durch die Verwendung einer nicht desinfizierten Nadel selbst infiziert haben könnte. Zwar wird sie sofort getestet, aber es dauert einige Wochen, bis das Ergebnis vorliegt. Es beginnt eine Zeit der Ungewissheit, in der Alpha von ihren Mitschüler*innen aus Angst vor Ansteckung gemieden wird…

Der Auftakt ist top!

„Alpha“ beginnt mit einem grandios-schmerzhaften Moment: Wir sehen die fünfjährige Alpha (hier noch: Ambrine Trigo Ouaked), wie sie die Einstichstellen am Arm ihres suchtkranken Onkels Armin (Tahar Rahim) verbindet, als wären sie ein Connect-the-Dots-Rätsel aus einer Kinderzeitschrift – niederschmetternd! Der „Madame Web“-Star hat für die Rolle als Junkie 20 (!) Kilo abgenommen, und er ist nun auch sowas wie das tragisch schlagende Herz des Films: Während er selbst am liebsten sterben würde, ist es seine Schwester, die ihn (selbst gegen seinen Willen) immer wieder am Leben hält – und so eine ähnlich enge Kontrolle über ihn ausübt wie über ihre rebellierende Tochter, die die Wünsche ihres Onkels viel besser versteht und akzeptiert. Das wäre ein passender Stoff für einen so intensiven wie intimen Film.

Aber Ducournau will (viel) mehr – nämlich so ziemlich jeden Aspekt der damaligen Krise in ihre metaphorische Epidemie-Welt zu übersetzen: Von der um sich greifenden Panik im von medizinischem Halbwissen geprägten Schulalltag bis zur Abweisung Erkrankter an den Pforten überfüllter Krankenhäuser ist „Alpha“ bis obenhin vollgestopft mit AIDS-Metaphern, die aber mehr abgehakt werden, als dass sie zu einem stimmigen World Building beitragen würden. Statt sich gemeinsam aufzutürmen, laufen sie weitgehend zusammenhanglos nebeneinander her. So zählen etwa die zunehmend von Paranoia geprägten Schulszenen noch zu den spannendsten Momenten (vor allem eine Sequenz im Schwimmbad, bei der sich viele die Augen zuhalten werden, weil man schon ahnt, was da gleich passiert). Aber nach gut der Hälfte des Films fällt dieser Aspekt einfach völlig hinten runter.

Ein hässlicher Film

Stattdessen verschwimmen zunehmend die verschiedenen Zeitebenen miteinander. Während die Motivationen der Figuren immer löchriger werden, gehen Realität, Erinnerungen und (verdrängte) Traumata dermaßen fließend ineinander über, dass man dem zunehmend frustrierend inkohärenten Treiben immer weniger zu folgen bereit ist. Zumal es auch einfach keine angenehme (oder auf herausfordernde Weise unangenehme) Erfahrung ist, sich „Alpha“ anzusehen: Die kontrastarmen, gräulichen Bilder sind geradeheraus hässlich, während das Gros der Infizierten aussieht, als ob sie von einem Graffiti-Artist mit ein wenig Body-Paint angesprüht wurden.

Aber das Schlimmste ist das völlig überdrehte, offensiv aggressive Sounddesign: Hintergrundgeräusche und Musikstücke sind selbst in eher harmlosen Szenen wie einer Familienfeier bis zur Übersteuerung hochgeregelt, sodass es schlichtweg nervtötend ist, sich dem auszusetzen. Nichts gegen eine tief verstörende, gerne auch richtiggehend ungemütliche Leinwandvision – aber bitte nicht auf eine derart billige, plakative Art. Wer sich „Alpha“ in ein paar Jahren dann gemütlich zu Hause mit Fernsehlautsprechern ansieht, der wird sich vermutlich fragen, was das ganze Getue um den Sound eigentlich zu bedeuten hat (und sich dann eher langweilen, weil der Druck auf dem Kessel fehlt). Im Kino aber liefert „Alpha“ zu wenig gute Gründe, sich dem für mehr als zwei Stunden auszusetzen.

Fazit: Nach zwei absoluten Volltreffern haut Julia Ducournau im dritten Anlauf mit vollem Schwung komplett daneben. Das ist wahnsinnig schade, wird ihr aber hoffentlich die Möglichkeit geben, in Zukunft wieder mit deutlich weniger Druck an ihre ersten Werke anzuknüpfen.

Wir haben „Alpha“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er im Rahmen des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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