The Secret Agent
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
The Secret Agent

Was versteckt sich im Magen des Weißen Hais?

Von Patrick Fey

2023 erschien der Dokumentarfilm „Pictures Of Ghosts“, in dem der brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho („Aquarius“) die Geschichte seiner Heimatstadt Recife erkundet – und zwar, indem er die Orte der teilweise gar nicht mehr existierenden Kinos aufsucht, in denen er einen nicht unerheblichen Teil seiner Kindheit verbracht hat. Dabei ging es auch um die Rolle der im Nordosten des Landes gelegenen Millionenmetropole während der Militärdiktatur in den Siebzigerjahren. Mendonça Filho und sein Team haben dafür umfangreiche Recherchen betrieben – und aus einigen für ihn besonders spannenden Funden hat er schließlich seinen sehr persönlichen, aber dennoch nur schwer greifbaren Polit-Thriller „The Secret Agent“, der nicht nur visuell Parallelen zu Quentin Tarantino aufweist, entwickelt.

Wie Mendonça Filho in seinen Werken immer wieder nach Recife zurückkehrt, ist auch der Protagonist des Films während der Karnevalsaison des Jahres 1977 gerade auf dem Weg zurück in seine Heimatstadt. Nur geschieht das im Fall des Ingenieurwesen-Professors Marcelo (Wagner Moura) nicht ganz freiwillig – was sich schon daran ablesen lässt, dass er unter falschem Namen in einem Appartementhaus eincheckt, in dem offenbar nur wenige der Bewohner*innen ihren tatsächlichen Namen verwenden. Aber ob ihn diese Geheimnistuerei bereits zum titelgebenden „Secret Agent“ macht, das ist neben der Herkunft eines menschlichen Beins im Magen eines Haies nur eines von vielen Geheimnissen, die in den nächsten zweieinhalb Stunden – in einem meist sehr gemächlichen Tempo – gelüftet werden.

Schon der Fiat 147  Marcelo (Wagner Moura) hat dieses ikonische Siebzigerjahre-Gelb, das man inzwischen wohl am ehesten mit Uma Thurmans Anzug aus „Kill Bill“ verbindet. Victor Juca
Schon der Fiat 147 Marcelo (Wagner Moura) hat dieses ikonische Siebzigerjahre-Gelb, das man inzwischen wohl am ehesten mit Uma Thurmans Anzug aus „Kill Bill“ verbindet.

Noch bevor er in Recife ankommt und das erste Kapitel beginnt, hält Marcelo an einer Tankstelle im Nirgendwo. Vor der Tür liegt eine Leiche in einer Blutlache, nur notdürftig mit Pappkartons bedeckt. Kein Grund zur Sorge, sagt der Tankwart, die Polizei sei längst informiert, lasse nun aber schon seit mehreren Tagen auf sich warten. Als dann doch ein klappriger Wagen der Staatsgewalt anrollt, haben die (auch wegen eines Blutflecks auf der Brust) äußerst verdächtigen Beamten kein Interesse an der Leiche, sondern nur an Marcello – bei einer Fahrzeugkontrolle suchen sie nach der kleinsten Kleinigkeit, um ihm einen Strafzettel aufdrücken zu können, und als das nichts wird, fragen sie zumindest nach einer „Spende“ für die Polizei.

Was die Militärdiktatur im Großen vormacht, sickert bis in die kleinsten Ecken der Provinz durch: Das Brasilien der Siebziger ist durch und durch korrupt – und davon, wie schlimm es wirklich ist, bietet dieser Tarantino-artige Prolog in sonnigen Cinemascope-Bildern nur einen ersten vorsichtigen Eindruck. Es entbehrt sicher nicht einer gewissen Ironie, dass Marcelo in Reclife – unter falschem Namen – ausgerechnet einen Job im Archiv des Identitätsinstituts (quasi das Einwohnermeldeamt) antritt. Vor wem oder was Marcelo flieht und ob er in Reclife nur untertaucht oder auch eine Aufgabe zu erledigen hat, bleibt lange nebulös. Ohne klaren roten Faden entwirft Mendonça Filho ein mit sehr vielen Figuren bevölkertes Sittengemälde, in dessen Mittelpunkt eine Art ziviles Untergrund-Hilfswerk für Verfolgte steht.

Alles nur Recherche?

Und als ob das nicht schon komplex und ausschweifend genug wäre, bricht Mendonça Filho etwa zur Hälfte das Narrativ endgültig auf, indem er plötzlich in die Gegenwart schneidet und wir erfahren, dass alles, was wir gerade gesehen haben, aus einem Gespräch zwischen zwei Studentinnen erwachsen ist, die für ein Forschungsprojekt alte Kassetten mit den Aussagen von Marcelo und anderen Beteiligten durchhören. Wem diese Prämisse bekannt vorkommt, denkt vielleicht an den argentinischen Kritikerliebling „Trenque Lauquen“.

Obwohl dem Regisseur offensichtlich das Aufarbeiten und Erfahrbarmachen dieser Epoche sehr am Herzen liegt, scheut er sich auch nicht vor dem Absurden, dem Comichaften, dem Pulp. So wird in einer augenzwinkernden Gore-Szene nicht nur das abgerissene menschliche Bein aus dem Bauch des Hais gezogen, wir erfahren zugleich auch, dass es Marcellos Sohn gar nicht abwarten kann, Steven Spielbergs „Der weiße Hai“ in dem Kino zu sehen, in dem sein Großvater als Vorführer arbeitet.

Wie vieles im Film bleibt auch bis zum Schluss vage, ob denn nun eigentlich Marcelo der titelgebende „Secret Agent“ ist oder nicht. Victor Juca
Wie vieles im Film bleibt auch bis zum Schluss vage, ob denn nun eigentlich Marcelo der titelgebende „Secret Agent“ ist oder nicht.

Trotzdem ist „The Secret Agent“ kein Coming-of-Age-Biopic à la „Belfast“ oder „The Fabelmans“. Statt tiefer über die Macht des Kinos und der Bilder ins Schwärmen zu geraten, nimmt uns Mendonça Filho stattdessen mit auf einen wilden Slasher-Trip, in dem ein stark behaartes, körperloses Bein an einem Sextreffpunkt herumhüpfend drauflos mordet – zumindest bis sich diese Pulp-Episode als visualisiertes Gespräch einer Gruppe von Frauen herausstellt, die sich über die sensationsheischende Presseberichterstattung in einem Mordfall lustig machen. Für die Dauer, die sich Filho dieser bewusst aus dem Rahmen fallenden Episode hingibt, haben wir es kurzzeitig mit einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte zu tun. Mendonça Filho nimmt sich alle Freiheiten heraus.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Charakterarbeit hier trotz der Dauer von zweieinhalb Stunden nicht unbedingt im Vordergrund steht. So bleiben bis zum Ende frappierende Leerstellen über (selbst wenn das damit zu erklären wäre, dass die entsprechenden Punkte auf den Kassetten der Studentinnen eben einfach nicht angesprochen werden). Mendonça Filho selbst scheint sich dieses Problems durchaus bewusst zu sein und versucht in einer Art Epilog, die erzählte und die erzählende Ebene miteinander zu versöhnen. Und so wohltuend diese Begegnung in einer Blutbank ist, bleibt trotzdem das Gefühl, dass es dafür nicht zerdehnte 145 Minuten gebraucht hätte, um zu diesem zugegeben wunderschönen Schlusspunkt zu gelangen.

Fazit: „The Secret Agent“ klingt nach spannendem Thriller-Kino, zumal sich Kleber Mendonça Filho dann auch noch – angefangen mit dem knalligen Retro-Gelb des Fiat 147 – großzügig an der Bildsprache eines Quentin Tarantino bedient. Allerdings ist die zwar kunstvoll verschachtelte, immer wieder Raum für Humor lassende Erzählung aber auch derart betulich geraten, dass sie selbst als atmosphärisches Korruptions-Mosaik nur bedingt überzeugt – zumal trotz der grandiosen sonnendurchfluteten Bilder auch in der Charakterarbeit viele Leerstellen offen bleiben.

Wir haben „The Secret Agent“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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