"Herr der Fliegen" beim Wasserball
Von Patrick FeyDie zentrale Frage, um sich dem aufsehenerregenden Regiedebüt „The Plague“ zu nähern, wird ungefähr zur Mitte des Films gestellt: „Würdest du lieber einen Hund ficken, ohne dass jemand davon wüsste? Oder würdest du es lieber nicht tun, aber dafür glaubt die ganze Welt, du hättest es getan?“ Der 13-jährige Protagonist Ben (Everett Blunck) braucht nicht zweimal nachzudenken, um sich für die Bestialität und gegen die Rufschädigung zu entscheiden. Und gewissermaßen ist damit alles gesagt, was man zu dieser Coming-of-Age-Horrorgeschichte sagen musss. Oder wäre es zumindest, wenn das Drehbuch von Charlie Polinger nicht mit einer solch klugen Beobachtungsgabe aufwarten und seine Regie nicht mit einer solchen Kontrolle über Spannungsaufbau und vor allem -entladung punkten würde.
Ausgesprochen wird dieses obszöne Gedankenexperiment von Eli (Kenny Rasmussen), einem Jungen, der im Tom Lerner Water Polo Summer Camp im Jahr 2003 ein bisschen anders ist als die anderen Teilnehmer. Oder zumindest als solcher gekennzeichnet wird: zum einen von dem Ausschlag, wegen dem er tagein, tagaus dasselbe hautenge Longsleeve-Shirt trägt, und zum anderen von den „cooleren“ Jungs, die ihn buchstäblich meiden wie die „Pest“. Auf diese „Pest“ bezieht sich auch der englischsprachige Titel – und mit ebendieser Infektionskrankheit, so behaupten es zumindest die anderen, habe sich Eli infiziert. Das Bullying, das die vom unscheinbar daherkommenden Jake (Kayo Martin) angeführte Gruppe auf Eli ausübt, drückt sich dabei nicht in Aggressivität, sondern vielmehr in entschiedener Meidung aus.
Der Protagonist von „The Plague“ ist aber weder der hauptsächliche Bully noch sein anfängliches Opfer, sondern eben Ben, der es als vermeintlich Außenstehender geschehen lässt, oder sich sogar aus Selbstschutz mit dran beteiligt – bis er eines Tages für den Geschmack des Ober-Bullys zu viel Freundschaftlichkeit mit dem aus dem Raster fallenden Eli austauscht und so plötzlich selbst zum Aussätzigen erklärt wird. Dieses Muster ist keinesfalls neu, man erinnere sich etwa an den Lindsay-Lohan-Klassiker „Girls Club“.
Dass sich „The Plague“ dennoch nicht formelhaft anfühlt, hat besonders damit zu tun, dass Polinger für sein Debüt auf eigene Tagebucheinträge aus seiner Jugend in Australien zurückgriff. So kommt er dem Horror des Erwachsenwerdens verstörend nahe. Als Vorbild für diesen anti-nostalgischen Blick in die frühen 2000er Jahre dienten ihm zudem Filme wie der Kannibalismus-Horror „Raw“ sowie Bo Burnams „Eight Grade“, die beide, ob nun allegorisch oder realistisch, die Andersartigkeit ihrer Protagonistinnen in den Vordergrund stellen und den Preis betonen, den dieses Abweichen von der Gruppennorm sie kosten kann.
Bemerkenswerterweise muss sich Polinger hier nicht zwischen allegorisch und realistisch entscheiden, vielmehr verbindet er die vermeintlich gegensätzlichen Ansätze so spielerisch wie fesselnd. Etwa durch den Score, der – besonders zu Beginn – entscheidend durch menschengemachte Geräusche wie rhythmisch-stoßartiges Atmen und Keuchen geprägt ist. Immer wieder schwillt es an und lässt uns somit permanent im Ungewissen darüber, was es denn tatsächlich mit der titelgebenden Infektionskrankheit auf sich hat. Ob Ben durch seine Teamkollegen tatsächlich Gefahr droht, lässt sich oft kaum ausmachen, nicht zuletzt, da vor allem Jake binnen eines Wimpernschlages vom besten Freund zum Anführer der Unterdrücker mutiert.
Der Wasserpolo-Sport ist zwar ein stimmiger Ausdruck für jugendlich-männliche Toxizität (das Mädchen-Camp macht unterdessen Synchronschwimmen), aber am Ende doch nicht mehr als eine Randbemerkung. Der auch als Produzent beteiligte Joel Edgerton spielt den gutherzigen, aber bisweilen etwas unbeholfenen Coach Daddy Wags, der durchaus versucht, sich den Dynamiken im Camp entgegenzustellen. In einer der erinnerungswürdigsten Szenen des Filmes sitzt der Coach mit Ben an einem Diner-Tisch und spricht mit ihm über die verschiedenen Jahrzehnte, die er bisher durchlebt hat. Dabei gesteht er dem hilflosen Heranwachsenden auf unbedachte, aber aufrichtige Weise, dass die Teenagerjahre tatsächlich die schlimmsten gewesen seien, es dann allerdings – spätestens in den Vierzigern (!) – irgendwann bestimmt besser werde. Aber wo die Teenie-Jahre so schlimm sind, wie sei das denn mit der Kindheit, hakt Ben nach. Nun, so schön wie in der Kindheit werde es nie mehr, gesteht der Coach.
Ein weniger ambitionierter Film würde mit einem solch bittersüßen Moment womöglich enden, doch Polinger betont durchweg, dass es ihm in seinem Erstling weitaus mehr um Wahrhaftigkeit denn um Harmonie und Konfliktlösung geht. Die Jungdarsteller stehen hier fast durchweg erstmals vor der Kamera und befinden sich zudem im selben Alter wie ihre Figuren. Was Szenen wie jene bei Nacht, in der die Jungs einander mehr oder weniger ausgeprägte sexuelle Fantasien aussprechen, um zur gleichen Zeit zu masturbieren, umso bemerkenswerter macht. (Bei der Arbeit mit der Intimitäts-Koordinatorin habe man nach vorsichtigem Abtasten schnell bemerkt, dass die jungen Schauspieler bereits viel mehr über Sexualität wissen, als man sich auf Produktions-Seite habe vorstellen können, so Polinger in einem Interview).
Diese Wahrhaftigkeit führt dann aber eben auch dazu, dass Protagonist Ben nicht die abrupte Kehrtwende vollzieht, wie es so viele ähnlich gelagerte Drehbücher gern herbeifantasieren. In einer fulminanten Endsequenz sehen wir ihn tanzen, immer weiter um sich kreisen. Die Gegenwart und all die Menschen, die dieses oder jenes von ihm halten mögen, werden zu einem bloßen Meer von Lichtern. Nichts ist gelöst, das Problem der Pubertät — der Pest — keinesfalls aus dem Weg geschafft. Doch die Erde wird sich weiterdrehen, und Ben schließt sich ihr im Gleichschritt an – nicht wissend, aber doch hoffend, dass die Zukunft nur besser werden kann.
Fazit: Mit „The Plague“ liefert Charlie Polinger ein so sinnliches wie sorgfältig beobachtetes Coming-of-Age-Debüt, das besonders den unter der Oberfläche brodelnden Horror der Pubertät gekonnt offenlegt und sich anstelle eines sauberen Happy Ends wagt, bis zuletzt auf die Instabilität dieser Jugendjahre zu bestehen.
Wir haben „The Plague“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er in der Sektion „Un Certain Regard“ seine Weltpremiere gefeiert hat.