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    Die Farbe der Milch
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Farbe der Milch
    Von Nicole Kühn

    Gelungene Filme, die sich der zugleich schwierigen und doch so aufregenden Lebensphase der Pubertät widmen, sind relativ rar gesät und werden von der Marketing-Maschinerie häufig stiefmütterlich behandelt. Umso erfreulicher, wenn es doch hin und wieder ein sehenswerter Teenie-Film auf die große Leinwand schafft. In ihrem zweiten Spielfilm begleitet die hauptsächlich als Schriftstellerin tätige Torun Lian ein zwölfjähriges Mädchen aus einer modern-chaotischen Familie auf seinem steinigen Weg zur ersten Liebe, auf dem es nur widerwillig und trotzig zögerliche Schritte nach vorn macht – und immer wieder zwei zurück. Die Dramatik der Gefühle fängt sie dabei in dem Jugendfilm „Die Farbe der Milch“ geschickt durch Situationskomik und fast groteske Figuren auf.

    Sommer in Norwegen: In der weiten Landschaft kann man sich fallen lassen – und verlieren. So wie die 12-jährige Selma (Julia Krohn), Weltmeisterin im „tot spielen“ und ansonsten ausgestattet mit einer großen Portion Skepsis gegenüber den Männern, der Liebe, und dem Leben an sich. Wie vom anderen Stern fühlt sie sich und sucht die Geheimnisse des Lebens auf dem Wege der wissenschaftlichen Forschung zu enträtseln. Der mit den Freundinnen geschlossene Pakt, Jungs keinerlei Interesse zu schenken, hält nicht lange. Nachdem sie sich durch Dates ihrer Freundinnen verraten fühlt, nimmt sie selbst Tuchfühlung auf – rein aus Forschungszwecken natürlich. Doch die Liebe drängt von allen Seiten in ihr Leben und fordert eine emotionale Auseinandersetzung: Da ist die herannahende Hochzeit ihrer ewig plappernden Tante Nora (Ane Dahl Torp) mit ihrer Hassliebe Rikard (Kim Sørensen), da ist der smarte Gaststudent aus Schweden (Gustaf Skarsgår), dessen Anblick ihr gleichzeitig erregende Neugier und ängstliche Fluchtinstinkte wachruft, und nicht zuletzt ist da der gleichaltrige Andy (Bernhard Naglestad), bei dem sie sich so ungewohnt wohl fühlt. Ein bewegender Sommer für das pubertierende Mädchen.

    Regisseurin Lian schafft es, trotz der oft halsstarrigen und lebensverneinenden Standpunkte ihrer Hauptfigur, die Geschichte des Zulassens der ersten Liebe mit großer Leichtigkeit zu erzählen. Die trotzigen Attacken der grüblerischen Selma zeugen von einer feinfühligen Seele hinter der burschikosen Oberfläche, die berührt. Angesichts des Traumas, durch die eigene Geburt den Tod der Mutter herbeigeführt zu haben, wird noch mehr als bei jedem anderen Jugendlichen die Abwehr gegen das urgewaltige Phänomen der Liebe und den Gedanken an Familie nachvollziehbar. Mit der aus über 2000 Mädchen gecasteten Julia Krohn hat die Figur der Selma eine starke und glaubwürdige Darstellerin gefunden, deren Schwanken zwischen Schwäche und Stärke, zwischen Zartheit und Raubein genau die richtige Balance hält, um sich weitgehend gängigen Klischees zu entziehen.

    In diese Falle tappen einige der Nebenfiguren. Während Selmas Freundinnen in ihrer Unentschlossenheit zwischen Neugier und Angst in Bezug auf Jungs sehr authentisch wirken, kommt das Beziehungschaos von Nora und Rikard etwas überfrachtet daher. Die Atmosphäre in Selmas gesamter Familie bleibt undeutlich zwischen Unverbindlichkeit und Herzenswärme. Wie das erwachsen werdende Mädchen zu ihren Angehörigen steht, erfährt man selbst aus seinen Off-Kommentaren, die das Geschehen begleiten, nicht klar, so, als seien außer der ungeliebten Nora die Personen keiner weiteren Gedanken wert.

    Weitaus mehr Energie als auf ihre Mitmenschen verwendet Selma auf wissenschaftliche Fakten, mittels derer sie fast biblisch hofft, die Welt zu erfassen und unter Kontrolle bringen zu können. Bezeichnender Weise gibt ihr der erste Mann, der ihr positiv „anders als die anderen“ erscheint, ein für sie unlösbares Rätsel auf, nämlich die innere Farbe der Milch heraus zu finden. Wie dieser junge Mann wird auch seine Frage sie lange beschäftigen, ohne dass sie zu einer Lösung kommt. Dazu bedarf es des klaren und einfachen Blicks ihres Klassenkameraden Andy. Nur langsam entdeckt sie, dass er ihr etwas geben kann und er für sie eine Bereicherung ist. Bernhard Nagelstad gibt diesem Jungen einen ebenso verständnisvollen wie herausfordernden selbstbewussten Charakter.

    Die Stimmung der Protagonistin, die sich in einer wunderbar fotografierten sanften und weiten Landschaft bewegt, überträgt sich stark durch die Musik, die immer dann einsetzt, wenn Selma die Worte fehlen. Nicht selten entsteht dadurch eine zweite Erzählebene, die das Gezeigte relativiert, indem sie dem Zuschauer das Innenleben Selma vorführt, das den Aktionen zuwider läuft. Das Ausgeliefertsein, das Selma trotz ihrer Selbstbehauptung empfindet, lässt die Kamera von John Christian Rosenlung in seinen Einstellungen spürbar werden. Ein winziger Punkt nur ist das Mädchen in der eröffnenden Vogelperspektive, allem preisgegeben. In der ersten erinnerungswürdigen Szene mit Andy steht ihr das Wasser wörtlich bis zum Hals, bis es über ihr zusammen schwappt und sie, unfreiwillig hinab gezogen in dieses Urelement, wunderschön gebrochenes Sonnenlicht erblickt. Diese aussagekräftige Bildgestaltung tröstet über die Schwächen in der Charakterisierung, die vor allem die erwachsenen Figuren trifft, hinweg. Ein Film, den man nicht nur, aber auf jeden Fall Teenies empfehlen kann.

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