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    Bittere Kirschen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Bittere Kirschen
    Von Sophie Charlotte Rieger

    Auch fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt Vergangenheitsbewältigung ein zentrales Thema deutscher Romane, TV-Produktionen und Kinofilme. In „Bittere Kirschen", der Verfilmung des Buches „Lenas Liebe" von Judith Kuckart, verknüpft Regisseur und Drehbuchautor Didi Danquart die Reise in die deutsche Vergangenheit mit einer ganz persönlichen Geschichte. Protagonistin Lena (Anna Stieblich) erforscht auf der Reise nach Polen und insbesondere Auschwitz nicht nur die Geschichte ihrer verstorbenen Mutter, sondern in gewisser Weise ebenfalls ihre eigene; so wie sich alle Nachkriegsgenerationen irgendwann mit der Frage konfrontiert sehen, inwiefern sie die Zeit 1933 bis 1945 auch als „eigene Geschichte" begreifen wollen. Auch über die Nebenfiguren, die sich ebenso an der Vergangenheit abarbeiten und versuchen, aus ihr Zukunftsentwürfe abzuleiten, beschäftigt sich Danquart mit der Frage, wie wir Historie denn nun schreiben sollen: Als Reihe von Kontinuitäten oder als eine von Brüchen und Neuanfängen? Mit surrealistischen Elementen in einem sonst eher nüchtern erzählten Drama geht der Regisseur allerdings auch ein Wagnis ein, denn letztlich erscheint der Prozess der Vergangenheitsbewältigung in „Bittere Kirschen" weniger als Weg zu einer sinnstiftenden Selbstvergewisserung, sondern als von Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten geprägte endlose Suche.

    Anlässlich der Beisetzung ihrer Mutter kehrt Lena (Anna Stieblich) in ihr Heimatdorf zurück. Sie bezieht ein Gästezimmer bei Julius (Martin Lüttge), einem langjährigen Freund ihrer Mutter, und nimmt Kontakt zu ihrer On-Off-Beziehung Ludwig (Ronald Kukulies) auf, den sie schon aus Kindertagen kennt. Doch die ehemalige Schauspielerin ist rastlos. Statt Ludwigs Heiratsantrag anzunehmen, begibt sie sich auf eine Reise nach Polen, wo den Erzählungen ihrer Mutter zufolge alles angefangen hat. Lena möchte dabei nicht nur die Gedenkstätte Auschwitz besichtigen, sondern vor allem herausfinden, was es mit der Beziehung zwischen Julius und ihrer Mutter auf sich hatte. In der Stadt Oświęcim (deutsch: Auschwitz) lernt sie den katholischen Priester Richard (Wolfram Koch) kennen, der infolge dieser Bekanntschaft in eine Glaubenskrise gerät. Und auch Julius, der Lena hinterherreist, ist verwirrt von dieser Rückkehr in seine Kindheit. Jeder der drei Protagonisten muss sich im Lauf der gemeinsamen Reise mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, um einen zielstrebigen Schritt in die Zukunft zu wagen...

    Didi Danquart („Offset", „Viehjud Levi") inszeniert den Roman von Judith Kuckart überwiegend in naturalistischen Bildern, deren Farblosigkeit insbesondere die Stadt Oświęcim in einer bedrückenden Tristesse erscheinen lässt. Zwischendrin überschreitet er aber auch immer wieder die Grenzen der Realität, wenn Lena mit ihrer verstorbenen Mutter in den Dialog tritt oder für Julius die Vergangenheit mit der Gegenwart verschwimmt. Dieser stilistische Kontrast irritiert, lässt dem Publikum aber auch viel Freiraum für eigene Deutungen zur schwierigen Frage, was Geschichte, Geschichtserinnerung und Geschichtsschreibung bedeuten sollen oder können. Die Rückblicke, die nicht immer klar als solche zu erkennen sind, deuten darüber hinaus ein Geheimnis in der frühen Biografie der Protagonisten an, das jedoch nie eine konkrete Form gewinnt oder gar aufgelöst wird. Hier wird der Zuschauer in besonderem Maße zur eigenen Reflexion animiert – das ist gerade bei einem so kritischen Thema wie dem Holocaust mehr als angemessen. Allerdings wird eine ergiebige Auseinandersetzung auch durchaus schwieriger, je vager und deutungsoffener das Thema präsentiert wird. Hier findet Danquart nicht unbedingt die optimale Balance und macht es dem Betrachter recht schwer.

    Der Regisseur setzt immer wieder verfremdende Elemente ein. Die Dialoge wirken gestelzt, als würden die Figuren nicht miteinander, sondern aneinander vorbei reden. Auch Sprachmelodien erinnern hier mehr an ein Bühnenstück als dass sie im geläufigen Sinne filmisch wirken würden. Das schafft Distanz zu den Figuren und erschwert es, sich in die Protagonisten einzufühlen. Im Finale treibt Danquart seine surreale Inszenierung dann auf die Spitze: In einer verlassenen Tankstelle, die sich in eine Art Zwischenwelt à la David Lynch verwandelt, treffen alle drei Hauptfiguren in abstrakter Weise auf sich selbst. Spätestens hier wird deutlich, dass der Regisseur nicht an die Kohärenz von Geschichte oder der Persönlichkeiten glaubt, die sich an ihr abarbeiten – alles ist fragmentiert. Dieser Ansatz wird hier schlüssig dargeboten und konsequent verfolgt. All jene aber, die sich von Geschichten- und Geschichtserzählern in erster Linie erhoffen, dass sie die Bedeutungssplitter zu einem klaren und eindeutigen Bild zusammensetzen, werden enttäuscht.

    Fazit: Didi Danquarts „Bittere Kirschen" ist eine Herausforderung, unseren Bezug zum scheinbar so einfachen Begriff „Geschichte" zu überdenken – ergiebig ist das allerdings nur für ein Publikum, das Irritationen willkommen heißt und Spaß an abstrakter Geschichtsphilosophie hat.

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