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    Das erstaunliche Leben des Walter Mitty
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das erstaunliche Leben des Walter Mitty
    Von Carsten Baumgardt

    1939 veröffentlichte der amerikanische Humorist James Thurber seine Kurzgeschichte „The Secret Life Of Walter Mitty“, die bereits acht Jahre später unter der Regie von Norman Z. McLeod als „Das Doppelleben des Herrn Mitty“ ins Kino gebracht wurde. Während Thurber selbst seine Tagträumer-Fabel nicht wiedererkannte, wurde der Film vor allem wegen der typischen Slapstick- und Nonsens-Einlagen des Stars Danny Kaye ein kleiner Komödien-Klassiker. 1994 kamen schließlich konkrete Pläne für eine Neuverfilmung auf, doch das Projekt sollte für zwei Jahrzehnte in der Entwicklungshölle schmoren und ein selbst für Hollywood-Verhältnisse bemerkenswertes Besetzungs-Ping-Pong erleben. So waren für die Hauptrolle unter anderem Jim Carrey, Owen Wilson, Mike Myers, Sasha Baron Cohen und Will Ferrell im Gespräch, während wahlweise Steven Spielberg, Ron Howard oder Gore Verbinski auf dem Regiestuhl Platz nehmen sollten. Diese turbulente Vorgeschichte ist dem nun tatsächlich fertigen Film indes nicht anzumerken, denn mit „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ wuchtet Ben Stiller als Regisseur und Titelheld in Personalunion ohne Kompromisse seine ureigene Vision des Thurber-Stoffes auf die Leinwand. Er leugnet die heute nicht mehr ganz zeitgemäße Naivität der Vorlage nicht und setzt für den Genuss seines optimistischen Abenteuer-Märchens die Bereitschaft zur scham- und grenzenlosen Träumerei voraus - das geneigte Publikum nimmt er dafür mit auf einen herzerwärmenden Trip voller betörender Bilder.  

    Der Fotoarchivar Walter Mitty (Ben Stiller) führt im hektischen New York ein zurückhaltendes Leben. Seine Arbeit beim renommierten „Life!“-Magazin bedeutet ihm auch nach 16 Berufsjahren alles. Soziale Kontakte hat er hingegen kaum, sein Liebesleben liegt komplett brach. Heimlich schwärmt der Junggeselle für seine flotte Arbeitskollegin Cheryl (Kristen Wiig), die ihn im Gewimmel des Alltags aber bisher nicht wahrgenommen hat. Den Anforderungen und dem Stress des täglichen Lebens entflieht der scheue Walter nur allzu bereitwillig. Immer wieder gibt sich der Phantast aberwitzigen Tagträumen hin: Manchmal rast er dann wie ein Comicheld durch den Big Apple, ein anderes Mal rettet er als heroischer Helfer in der Not ein Schoßhündchen aus einem lichterloh brennenden Gebäude. Bei der Arbeit braut sich derweil Ungemach zusammen. Die Printausgabe des Magazins soll eingestellt und viele Mitarbeiter entlassen werden. Zu allem Überfluss hat Walter auch noch ein Negativ des legendären Fotografen Sean O’Connell (Sean Penn) verloren, ausgerechnet jenes Bild, das die Titelausgabe der allerletzten „Life!“ zieren soll. Er forscht dem rastlosen Weltenbummler Sean nach, in der Hoffnung, Hinweise auf den Verbleib des Originalfotos zu finden. Schließlich nimmt Walter all seinen Mut zusammen und startet in das Abenteuer seines Lebens…

    Nachdem sich die Kreativen der Traumfabrik 20 Jahre lang die Zähne an einer passenden Neu-Interpretation der „Mitty“-Story ausgebissen haben, kann auch Ben Stiller („Reality Bites“, „Meine Braut, ihr Vater und ich“) die Zweifel nicht sofort zerstreuen. Sein Film kommt zu Beginn nicht so recht in Gang, man glaubt zunächst es mit einer romantischen Komödie von der Stange und mit arg klischeelastiger Dutzendware zu tun zu haben. Aber die Einführung der schüchternen Hauptfigur Walter als von der Welt bestenfalls missverstandener, im Prinzip aber komplett ignorierter Außenseiter erweist sich bald als notwendige erzählerische Vorbereitung des folgenden Abenteuers. Erst durch sie wird der emotionale Quantensprung deutlich, den der Träumer Mitty vollführt, als er aus seinem Schneckenhaus in die große weite Welt hinauszieht. Mit dem Beginn von Walters Odyssee über Grönland, Island bis in den Himalaya hebt der Film dann sprichwörtlich ab und entwickelt einen atemberaubenden Sog. Kameramann Stuart Dryburgh („Das Piano“, „Bridget Jones“) vollbringt dabei nicht nur mit den perfekt arrangierten farbgesättigten Landschaftsaufnahmen der über den halben Erdball verstreuten Schauplätze wahre Wunder, sondern kreiert mit seinen präzise aufeinander abgestimmten Einstellungen auch tolle, phantasievolle Bildübergänge und befeuert mit ihnen immer wieder die melancholisch-träumerische Grundstimmung des Films.

    Regisseur Stiller zeigt in seiner fünften Kinoarbeit beachtliche erzählerische Reife, der Ton der Geschichte verändert sich stetig, aber die Entwicklung erfolgt auf ganz selbstverständliche und schlüssige Weise. Nach dem nüchternen Grau der Einführung wird es immer abenteuerlicher und träumerischer – dabei entgleitet Walters unfreiwilliger Selbstfindungstrip nicht etwa ins abgehobene Reich der reinen Fantasy, sondern alles erscheint als ebenso kühnes wie organisches Weiterdenken und Auf-die-Spitze-Treiben der Realität. So behält das Märchen trotz aller Überhöhung die Bodenhaftung und entfaltet dadurch in vielen Momenten eine umso stärkere emotionale Wirkung. Auch der gelegentlich eingeflochtene rau-herzliche Humor driftet eben nicht in Klamauk ab (außer bei einem unsinnigen „Benjamin Button“-Zitat), sondern steht im Dienst der Geschichte, etwa wenn überaus treffend aalglatte, karrieregeile Business-Löwen karikiert (man achte auf: Adam „der Bart“ Scott) werden. Amüsant sind auch die Szenen, in denen Walter seine Skateboard-Künste demonstriert. Er ist ein echter Champion auf dem Board und das ist nicht nur das einzige, was an der grauen Maus Mitty auch nur annähernd cool ist, sondern es bringt auch immer wieder willkommene und spaßige Action in die Handlung.

    Auch die Elemente der Erzählung, die man leichthin auf ihre dramaturgische Funktion reduzieren könnte, bekommen von Stiller eigenes Gewicht. Das gilt für die wiederkehrenden Telefonate des einsamen Singles Walter mit einer Partneragentur (genau hinhören, wer den eHarmony-Mitarbeiter spricht!) genauso wie für das ominöse fehlende Negativ und die Jagd nach Sean O’Connell, die es auslöst. Diese führt zu immer wahnwitzigeren Situationen und mündet schließlich in der herzenswärmsten Filmauflösung des Jahres – ein magischer Moment, in dem die Gefühle von fast zwei Stunden Film in einer einzigen Einstellung komprimiert werden. Die emotionale Wärme dieser Szene wäre ohne die überzeugend angelegte und einfühlsam gespielte Hauptfigur indes kaum denkbar. Walters Entwicklung mag extrem sein und von vornherein unumkehrbar scheinen, aber Ben Stiller macht den Spießer sympathisch und seine Wandlung nachvollziehbar. Daneben spielt der gewohnt extrovertierte Hasardeur Sean Penn („Milk“, „Mystic River“) als legendärer Fotograf zwar ein Phantom, aber seine kurzen Auftritte strotzen nur so vor Verwegenheit und er verleiht seiner zunächst so schematisch wirkenden Figur etwas unerwartet Großmütiges. Die radikal entblondete Komikerin Kristen Wiig („Brautalarm“, „Anchorman 2“) kann da nicht ganz mithalten, ihre Cheryl bleibt unterbelichtet und überraschend uncharmant. Deshalb köchelt die zarte Romanze zwischen Stiller und Wiig auch nur auf Sparflamme.

    Fazit: „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ ist nicht nur einer der bestfotografierten Filme des Jahres, sondern auch eine traumhaft optimistische Fabel darüber, dass es sich lohnt, die Gelegenheiten, die einem das Leben bietet, einfach beim Schopf zu packen: ein höchst eigensinniger, wunderbar wüster Film voll schrägen Charmes!

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