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    Wo ist Anne Frank
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Wo ist Anne Frank

    Was wir heute noch daraus lernen können

    Von Karin Jirsak

    Mit seinem Oscar-nominierten „Waltz With Bashir“ wagte der israelische Regisseur Ari Folman das formale Experiment einer animierten Dokumentation. Seine wegweisende autobiografische Erzählung aus dem ersten Libanonkrieg begeisterte 2008 nicht nur die Oscar-Academy. 15 Jahre später liefert Folman mit „Wo ist Anne Frank“ wieder einen Animationsfilm, der von Krieg und kollektiver wie individueller Trauma-Verarbeitung erzählt.

    Basierend auf der gleichnamigen Graphic Novel, die er gemeinsam mit der Zeichnerin Lena Guberman entwickelte, stellt Folman eine Hypothese auf: Was wäre, wenn die imaginäre Freundin Kitty, an die Anne Frank im Versteck vor den Nazis ihre Aufzeichnungen adressiert hat, in der heutigen Zeit zum Leben erwacht? Ein Kunstgriff, der wunderbar funktioniert und für alle Altersgruppen eine neue und spannende Perspektive bietet, um sich dem wohl wichtigsten Tagebuch der Geschichte anzunähern.

    Die Geschichte von Anne Frank, die im Versteck vor den Nazis ein in die Geschichte eingehendes Tagebuch schreibt, kennt auch heute noch jedes Kind – oder?

    Eine eisige Nacht in Amsterdam. Im Hinterhaus der Prinsengracht 263, in dem sich die Familie Frank in den Jahren 1942-44 vor den Nazis versteckte, geschieht etwas Seltsames: Annes Tagebuch wird lebendig und mit ihm Kitty, das Mädchen, das Anne erfand, weil sie es sonst komisch gefunden hätte, ihre Gedanken einem leeren Buch anzuvertrauen. Nachdem sie Anne vergeblich gesucht hat, nimmt Kitty das Tagebuch an sich und verlässt das Haus in der Prinsengracht, das inzwischen ein Museum ist, um ihre Freundin zu finden. Mit Hilfe von Peter, einem Jungen, der sich zusammen mit anderen geflüchteten Kindern in einem verlassenen Haus versteckt, kommt Kitty der Wahrheit auf die Spur…

    Anne-Frank-Brücke, Anne-Frank-Krankenhaus, Anne-Frank-Theater... Wie in Trance wiederholt Kitty auf ihrer Odyssee durch das heutige Amsterdam die Benennungen der Gebäude, wieder und wieder begegnet ihr der Name der verschwundenen Freundin im Stadtbild. Aber wo ist Anne? Kittys Suche personifiziert die zentrale Frage des Films: Was bedeutet Anne Frank heute noch? Was können wir aus ihrem Leben und aus ihrem Werk lernen?

    Ein grandios-gelungener Kunstgriff

    Der Kern ihrer Geschichte ist mit dem Verstand allein nicht zu erfassen. Von dieser Erkenntnis ausgehend, schafft es Folman, uns mit seiner einfühlsamen Charakterzeichnung Anne und die Menschen, mit denen sie in ihrem Versteck zusammenlebte, so nahezubringen, dass das Grauen ihres Schicksals tatsächlich fühlbar wird. Wenn Anne und Margot etwa nebeneinander im Bett liegen und ihre schwesterlichen Eifersüchteleien klären, oder wenn es auf dem Dachboden mit Peter van Pels (im Tagebuch: van Daan) zur ersten, rührend ungelenken Annäherung kommt, entsteht genau die emotionale Verbindung, die für ein tiefergehendes Verstehen notwendig ist.

    Die intimen Zwiesprachen mit Kitty, die sich in Annes übergroßer, überlebenswichtiger Fantasie als Mensch mit eigenen Gefühlen und Unsicherheiten manifestiert, erweisen sich dabei als Schlüssel, der Vergangenheit und Gegenwart verbindet: Kitty fungiert als eine Art Spiegelbild von Anne, in die Jetzt-Zeit projiziert – kein Zufall natürlich, dass der Junge, den sie auf ihrer Suche kennenlernt, ebenfalls den Namen Peter trägt.

    Kitty begibt sich im verschneiten Amsterdam auf Spurensuche – und beantwortet soe nebenbei die Frage, was wir auch heute noch von Anne Frank lernen können.

    Neben den Figuren, die trotz aller besonderen Umstände eben auch ganz normale Teenager-Gedanken, Sehnsüchte, Sorgen und Konflikte haben, ist es auch die visuelle Gestaltung, die vor allem diejenigen abholt, die heute in Annes Alter sind. Kittys Freund Peter und die anderen sehen mit ihren Undercuts, zerschnittenen Jeans und Piercings so aus, wie junge Menschen in den Städten eben derzeit aussehen –ausgenommen natürlich Kitty, die mit ihrem 1940er-Jahre-Look schnell für Aufsehen sorgt). Der ätherische Score von Karen O (Yeah Yeah Yeahs) und MGMT-Mastermind Ben Goldwasser passt dazu perfekt. Die traumhaft animierte niederländische Hauptstadt mit vereisten Grachten und Coffeeshops bildet den idealen Ausgangspunkt, um die Grenzen von Realität und Fantasie in mitreißenden Strudeln zu verwischen – was mit Blick auf Annes Persönlichkeit nicht nur schlüssig, sondern auch erzählerisch notwendig ist, um Kittys Suche darzustellen.

    Wenn Anne ihrer ausgedachten Freundin in einer Rückblende die Willkür der Judenverfolgung erklärt und andere historische Beispiele für diese Willkür aufzählt (etwa den Genozid an den Armenier*innen), entsteht eine geschichtliche Brücke, die Folman nutzt, um seine Antwort auf die Kernfrage zu formulieren. Was kann Anne Frank uns heute lehren?

    Provokante Parallelen

    Die Antwort könnte polarisieren. Mit dem Leuchtstift unterstreicht Folman Parallelen zwischen dem Schicksal der Familie Frank und der Situation heutiger Geflüchteter. In einer Szene wird etwa gezeigt, wie die Polizei auf der Straße ein dunkelhäutiges Kind einfängt, in einen Wagen sperrt und aufs Revier bringt. Wie die Familie Frank müssen auch die illegal eingewanderten Jugendlichen um Kittys Freund Peter jederzeit fürchten, in ihrem Versteck entdeckt und in ihre sogenannten sicheren Herkunftsländer abgeschoben zu werden.

    Am Ende laufen die Parallelen zu einem Finale zusammen, dem erwachsene Rezipient*innen Naivität vorwerfen könnten, wenn sie es denn wollen. Gerade bei den Jüngeren dürfte die Botschaft aber genau auf diese Art in ihrer ganzen einfachen Wahrheit ankommen: Nichts kann wichtiger sein, als ein Menschenleben zu retten. Damals wie heute. Keine Diskussion.

    Fazit: Ari Folman schickt Anne Franks imaginäre Freundin Kitty im heutigen Amsterdam auf Spurensuche. Das Resultat des wohldurchdachten Kunstgriffs ist fantastisch, poetisch, klug und gewagt – ein visuell berauschender, inhaltlich wichtiger Film, der Anne Frank und ihre zeitlose Botschaft ganz nah heranholt.

     

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