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    Wunder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wunder
    Von Thomas Vorwerk

    Auf dem Schulhof, bekanntlich einer der erbarmungslosesten Orte des Alltags, genügt manchmal schon die falsche Turnschuhmarke, um Hohn, Spott und handfestes Mobbing hervorzurufen. Für jede Äußerlichkeit, die von der vermeintlichen Norm abweicht, für jedes Anderssein bekommt man zudem schnell einen gemeinen Spitznamen verpasst. Die Opfer solcher kindlicher Grausamkeit werden in der Fiktion nicht zufällig oft zu den Helden, denn fast jeder kann sich mit den heranwachsenden Außenseitern identifizieren, wie auch der anhaltende Erfolg der Marvel-Mutanten aus „X-Men“ und Co. beweist. Stephen Chboskys gleichnamige Adaption des Kinder- und Jugendbuchs „Wunder“ (Deutscher Zusatztitel: „Sieh mich nicht an“) von R.J. Palacio lebt ebenfalls von dieser einfach zu verstehenden Ausgangssituation. Der Regisseur von „Vielleicht lieber morgen“ verleiht seinem emotionsgeladenen Familiendrama mit Coming-of-Age-Einschlag dazu einen ungewöhnlichen Facettenreichtum.

    August „Auggie“ Pullman (Jacob Tremblay) sieht seinem ersten Schultag mit Grauen entgegen. Nachdem er die ersten vier Klassenstufen von seiner Mutter Isabel (Julia Roberts) zuhause unterrichtet wurde und auch seine etwas größere Schwester Olivia (Izabela Vidovic), die von allen nur Via genannt wird und Vater Nate (Owen Wilson) ihn liebevoll umhegten, geht nun der Ernst des Lebens los und er muss sich allein seiner Umwelt stellen. Auggies Problem: Durch einen seltenen Gendefekt ist sein Gesicht entstellt, was den Einstieg für den Elfjährigen in der Schule nicht einfacher macht. Vor allem sein Klassenkamerad Julian (Bryce Gheisar) macht Auggie alsbald zur Zielscheibe übler Scherze…

    Über Auggie als Erzähler lernen wir zu Beginn die Perspektive der Hauptfigur kennen und erleben auch seine persönliche Taktik, mit der ungewohnten Situation klarzukommen: Auggie ist „Star Wars“-Fan und hat generell eine Vorliebe für alles, was mit dem Weltall und Astronauten zu tun hat. Da er ohnehin nichts lieber tut als den ganzen Tag mit einem Astronautenhelm auf dem Kopf rumzulaufen, nutzt er dieses geniale Geschenk gern, um sein Gesicht vor der Umwelt zu verbergen. Wenn er (gezwungenermaßen ohne Helm) erstmals über den Schulhof wandelt und die unvorbereiteten Mitschüler erschrocken oder ablehnend reagieren, stellt er sich vor, er sei ein bejubelter Raumfahrer, der gerade von einer Expedition ins All zurückkehrt. Oder einer seiner Helden aus „Star Wars“ wie Chewbacca, der eben etwas anders aussieht, aber bekannterweise trotz Ganzkörperbehaarung und schwer verständlicher Grunzsprache eine toller Kerl und ein echter Kumpel ist.

    Als Auggie nach seiner Liebklingsfigur aus dem Sternenkriege-Universum gefragt wird, entsteht daraus eine der witzigsten, bewegendsten und fantasievollsten Szenen des Films mit einem winzigen Überraschungskurzauftritt als Krönung. Erzählerisch noch bedeutsamer ist dann aber, dass Auggie zwar der Protagonist der Geschichte bleibt, aber seine Perspektive nach einer Weile aufgegeben wird. Nach und nach treten neue Erzählerstimmen in Erscheinung, die uns jeweils durch einige Szenen führen. Dabei erleben wir das Geschehen jeweils für eine Weile aus deren Sicht. Zunächst rückt so Auggies Schwester Via in den Vordergrund, die ihn zwar abgöttisch liebt, aber manchmal eben auch darunter leidet, dass sich die Aufmerksamkeit der Eltern deutlich auf ihren Bruder konzentriert.

    Drei Kinder und Jugendliche aus Auggies Umfeld bekommen im Verlauf des Films ihre eigene Stimme, was der Handlung neue Facetten hinzufügt, die erzählerische Spannung aufrechterhält und das Spektrum der Emotionen ständig erweitert. Im Mittelpunkt der Handlung steht immer Auggie, aber der multiperspektivische Rundumblick gibt schließlich auch die Sicht auf die verborgenen Absichten und die Unachtsamkeit einiger Figuren frei – und somit auf die Ursachen der vielen kleinen und großen Konflikte, die den Alltag der jungen Leute prägen. Der opportunistische Impuls, sich bei einer bestimmten Person (oder Gruppe) auf Kosten anderer einzuschmeicheln, erschien selten zugleich so nachvollziehbar und so falsch wie hier, denn wir sehen wie niederschmetternd eine solche Handlungsweise eben auch wirken kann. Große Gefühlsdramen hängen hier an einer zufällig aufgeschnappten Bemerkung, die eine schlimme Kettenreaktion des Unglücklichseins auslöst. Umso toller ist es, wie die Konflikte dann aufgelöst und die Missverständnisse aufgeklärt werden: Ein mutiges offenes Wort oder eine Entschuldigung von Herzen kann vieles richten.

    Die Vielstimmigkeit der Erzählung bringt dem Publikum insbesondere die Nebenfiguren sehr nahe, die in anderen Filmen häufig weitgehend auf ihre erzählerische Funktion reduziert bleiben. Selbst der fiese Ober-Bully Julian erscheint nach einer entlarvenden Szene mit seinen Eltern in einem gänzlich anderen Licht, auch wenn er hier kein eigenes „Kapitel“ erhält (in einem Spin-off zum Roman hat er es inzwischen bekommen). Dass selbst die kleineren Rollen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, ist zudem der exzellenten Besetzung zu verdanken: Neben der durchweg überzeugenden Riege der Jungdarsteller um den mittlerweile auf außergewöhnliche Kinderschicksale abonnierten Jacob Tremblay („Raum“, „Book of Henry“) verleihen auch die eher am Rand der Geschichte auftauchenden Erwachsenen der Geschichte subtil Konturen und machen den Film auch für ältere Zuschauer sehenswert.

    Ziemlich großartig ist etwa die Szene, als Auggie erstmals einen Schulfreund mit nach Hause nehmen will und Julia Roberts als seine Mutter offensichtlich vor Freude am liebsten umherspringen würde, sich aber vor den beiden Jungs im Zaum hält und sich selbst zuraunt: „Ich muss cool bleiben!“. Die Erwachsenen als Gruppe wirken zwar eine Spur zu perfekt und einfühlsam, aber Darsteller wie Owen Wilson („Marley und ich“) oder Mandy Patinkin („Die Braut des Prinzen“) als Schuldirektor „Tushman“ sind selbst als fast schon aufdringlich vorbildliche Gutmenschen in einem Familienfilm mit überschaubarer Fallhöhe und einem geradezu märchenhaften Finale (ein bisschen wie beim ersten Band von „Harry Potter“, wo selbst noch die versteinerte Katze wiederbelebt wird und man den Schulwettbewerb gewinnt) ein Erlebnis.

    Fazit: Ein schöner Wohlfühlfilm für die ganze Familie, bei dem das Wunderbare des Titels vor allem im allzu perfekten Finale etwas überbetont wird.

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