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    Diego Maradona
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Diego Maradona

    Tief gefallener Fußballgott

    Von Carsten Baumgardt

    Pelé, Lionel Messi, Cristiano Ronaldo oder Diego Maradona - wer nun wirklich der beste Fußballer aller Zeiten ist, darüber darf man durchaus streiten. Der ohne Zweifel schillerndste dieses triumphalen Quartetts ist der Argentinier Diego Armando Maradona, den der britische Filmemacher Asif Kapadia („Senna“, „Amy“) in seiner ekstatischen und doch ehrlichen Sport-Dokumentation „Diego Maradona“ mit allen Höhen und Tiefen schonungslos und doch mit Sympathie porträtiert. Sein mehr als zweistündiges Kaleidoskop des Maradona-Kosmos lässt das heutige Publikum die grenzenlose Begeisterung der Massen in den 1980er Jahren nachfühlen und zeigt den begnadeten, nur 1,65 Meter großen Ballkünstler in seinen ganzen Facetten – als Held, als Gott und als Betrüger…

    Die Laufzeit eines Kinofilms reicht natürlich nicht aus, um das ganze bewegte Leben der Fußballlegende zu dokumentieren. Auslassung ist daher ein Muss. Das mag den einen oder anderen Fan schmerzen, doch weil sich Asif Kapadia in „Diego Maradona“ auf eine bestimmte Zeitspanne konzentriert, kann er in dieser Phase nicht nur die Erfolge und späteren Abstürze Maradonas dokumentieren, sondern auch den Menschen ergründen. Dabei nutzt der Regisseur ein ganzes Füllhorn an Archivmaterial, reichert es mit seltenen Privatvideos an und greift im Notfall auf Fernsehbilder zurück. Dieser roh und rau wirkende Mix strahlt viel Authentizität aus - trotz oder gerade wegen der teilweise schlechten Qualität der alten Aufnahmen. Die Fußballszenen sind derweil dynamisch, denn Maradona wird hier meist mit einer persönlichen Kamera eingefangen, die den argentinischen Superstar aus nächster Nähe als Fixpunkt zeigen. Das liefert einen spannenden Hinter-die-Kulissen-Blick, weil man viele Bilder der wichtigsten Stationen schon aus der Stadionkamera-Perspektive kennt – ein cleverer Schachzug von Kapadia.

    Der beste Fußballspieler aller Zeiten?

    „Diego Maradona“ beginnt erst richtig nach einem Prolog, in dem seine Zeit bei den Boca Juniors (1981 bis 1982) und beim FC Barcelona (1982 bis 1984) mit wenigen Szenen - etwas enttäuschend – nur kurz abgefrühstückt wird. Das glasklare Zentrum von Kapadias Film ist Maradonas Zeit beim SSC Neapel (1984 bis 1991), dem einstigen Schmuddelclub Italiens, den der Superstar vom Abstiegskandidaten zu Glanz und zwei Meistertiteln (1987, 1990) führt. Als Maradona aus Barcelona für die damalige Rekordsumme von 24 Millionen Mark wechselt, begrüßen ihn bei der Vorstellung im Stadio San Paolo in Neapel 85.000 enthusiastische Tifosi, die vollkommen ausrasten. Bei seinem Abgang sieben Jahre später geht der Argentinier nach einer Verurteilung wegen Kokain-Konsums, Dopingvergehen und privaten Skandalen ohne Applaus und Zuschauer lautlos durch die Hintertür.

    Die Zeit dazwischen inszeniert der Regisseur als wilde, ekstatische Achterbahnfahrt, die Maradona zunächst von Triumph zu Triumph ziehen lässt – mit dem argentinischen WM-Sieg 1986 und der ersten italienischen Meisterschaft für Neapel 1987 als emotionalen Höhepunkten. Dabei helfen Kapadia nicht nur die sportlichen Bilder aus der Maradona-Perspektive, sondern er blickt auch dahinter: mit Aufnahmen aus der Kabine der Nationalmannschaft und des SSC Neapel, wo der Superstar mit seinen Mitspielern in einem Rausch aus Glücksgefühlen versinkt. Und wenn er bei der offiziellen WM-Siegesfeier in Buenos Aires vor Zehntausenden minutenlang „Argentina, Argentina“ mit dem WM-Pokal in der Hand brüllt, ist das so ergreifend, weil jeder, der diese Bilder sieht, mitfühlen kann. Für die Authentizität des Films ist auch das Mitwirken Maradonas selbst als Off-Kommentator wichtig, denn der gefallene Superstar schönt nichts und reflektiert seine Fehltritte.

    Koksender Kicker

    Denn wer so hoch fliegt, für den ist die Fallhöhe enorm. Das zeigt Kapadia eindrucksvoll. Immer wieder ist zu sehen, wie Maradona in Menschenmassen und Tumulten bedrängt wird, ihm keine Luft gelassen wird. Sein Gottstatus in Neapel hat seine Schattenseiten, er kann sich nicht mehr frei bewegen, was den Menschen Diego Maradona auf Dauer kaputt macht. Durch seinen Kokainkonsum ab 1987 hat ihn die Camorra mit der einflussreichen Familie Giuliano in der Hand. Sie schützen ihn, doch er muss Gefälligkeiten leisten und im Umfeld der Giulianos als Freund auftreten. Es ist paradox, obwohl Maradona inzwischen drogenabhängig ist, kokst er bis mittwochs und reinigt anschließend seinen Körper mit Abstinenz und Training, um fit für das Spiel am Sonntag zu sein. Auch diese Absurdität fängt Kapadia gelungen ein.

    Es gibt zwei Menschen in einer Person, wie der Regisseur deutlich macht: Diego, den schüchternen, netten Jungen, der es durch den Fußball aus den Slums von Buenos Aires zum Weltstar geschafft hat, und die schillernde Kunstfigur Maradona, die Diego zu seinem eigenen Schutz geschaffen hat, um den ganzen Rummel überhaupt irgendwie ertragen zu können. Und der Maradona-Teil seiner Persönlichkeit ist gleichzeitig für seinen Untergang verantwortlich, weil der Diego im Kern diesem ganzen Irrsinn um seine Person nicht gewachsen ist. Viel tiefer geht Kapadias Analyse dann zwar nicht und wird vor allem im Schlussteil über das Ausklang seiner Karriere etwas unpräziser und auslassender, aber der Zuschauer versteht, wie Diego Maradona zu Fall kam und welch großartiger Fußballer er war.

    Diego, der Mensch hinter dem Star.

    Wie Maradona dann letztlich nach seiner Karriere endgültig mit zahlreichen Skandalen zur tragischen Figur wird, deutet Kapadia nur an, indem er am Ende einen Sprung von 1991 ins Jahr 2004 macht, wo Maradona krank, aufgedunsen und rund wie eine Kugel ein bemitleidenswertes Bild abgibt, wenn er sich körperlich deformiert bei einem Spaßkick auf einem Bolzplatz kaum bewegen kann. Diese Bilder sind für jeden Fußballfan schmerzhaft, gab es doch nie auf der Welt einen besseren Techniker als den genialen Argentinier. Nicht umsonst ist sein sensationelles Dribbel-Solo-Tor im WM-Viertelfinale 1986 gegen England (2:1) von der FIFA zum Tor des 20. Jahrhunderts gewählt worden. Gerade dieses legendäre Spiel zeigt die Facetten Maradonas – beim 1:0 betrügt er mit der „Hand Gottes“, beim 2:0 zeigt er seine ganze Genialität, als er sein Solo in der eigenen Hälfte startet, sechs Feldspieler und anschließend noch den Torwart aussteigen lässt und den Ball ins Tor schiebt.

    Fazit: „Diego Maradona“ ist eine mitreißende und elektrisierende Dokumentation über den Fußballer und Menschen Diego Armando Maradona, der einst als Gott von Neapel verehrt wurde und nach Skandalen tief gefallen ist.

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