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    Sweet Country
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Sweet Country
    Von Björn Becher

    Das australische Western-Drama „Sweet Country“ wurde bei den Filmfestspielen von Venedig nicht nur mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, sondern auch mit dem Premio Bisato d'Oro, dem Preis der unabhängigen Kritiker für den besten Film des Festivals. Dass Warwick Thorntons (nach dem oscarnominierten „Samson & Delilah“ von 2009) zweiter großer Spielfilm dabei in der Gunst der Kollegen selbst Guillermo del Toros späteren Oscar-Erfolg „The Shape Of Water“ hinter sich ließ, verwundert nicht. Der australische Regisseur und Kameramann vermittelt seine dramatische Rassismus-Geschichte durch einige der eindrucksvollsten Bilder, die wir in der jüngeren Vergangenheit bewundern durften. Die herausragende Optik mit ihren an John Ford-Western erinnernden Landschaftsaufnahmen erleichtert den Zugang zu dem bewusst gemächlichen, mit etwas zu vielen Figuren angereicherten, aber eben auch sehr starken Film.

    Australien in den 1920er Jahren: Die Aborigines sind in den Augen des Gesetzes Menschen zweiter Klasse, haben daher kaum Rechte und leben oft in sklavenähnlichen Zuständen. Sam (Hamilton Morris) bildet da eine Ausnahme: Er wohnt bei dem Prediger Smith (Sam Neill), für den alle Menschen gleich sind und der ihm sogar das ganze Haus in seiner Abwesenheit anvertraut. Doch eines Tages kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dem traumatisierten und rassistischen Kriegsheimkehrer March (Ewan Leslie). Sam erschießt den Weißen und ergreift in Panik mit seiner Frau (Natassia Gorey Furber) die Flucht. Bald werden sie von einer Gruppe von Männern, angeführt von dem fanatisch das Gesetz vertretenden Sergeant Fletcher (Bryan Brown) und dem Mick Kennedy (Thomas M. Wright), durchs unwirtliche australische Hinterland gejagt …

    Warwick Thornton und die Drehbuchautoren Steven McGregor und David Tranter erzählen ihre von einem wahren Fall inspirierte Geschichte in drei Abschnitten. Im ersten Drittel bereiten sie langsam die Auseinandersetzung zwischen Sam und March vor. Im zweiten Teil erzählen sie dann von der Menschenjagd und dem Überlebenskampf in der Wildnis, dem sich nicht nur die Flüchtenden, sondern auch ihre Verfolger stellen müssen. Im sehr starken finalen Drittel avanciert „Sweet Country“ dann zu einem Gerichtsdrama, in dem die Geschehnisse durch einen Richter (Matt Day) noch einmal aufgearbeitet werden. Trotz dieser Dreiteilung findet aber keine Fokussierung auf den gerade erzählten Part der Geschichte statt – ganz im Gegenteil.

    „Sweet Country“ ist nämlich alles andere als geradlinig erzählt. Immer wieder gibt es Nebenhandlungen, wie zum Beispiel um den Aborigine-Jungen Philomac (gespielt von den Zwillingen Tremayne und Trevon Dolan), der bei Farmer Kennedy aufwächst und versucht, seinen eigenen Weg in dieser Welt zu finden. Die Coming-Of-Age-Geschichte des Jungen ist einer von vielen Nebensträngen, mit denen in „Sweet Country“ ein komplexes Bild des Lebens im Australien der 1920er Jahre entworfen wird. Immer wieder werden so andere Charaktere in den Vordergrund gerückt, wobei sich Thornton auch eines Stilmittels bedient: Wenn eine Figur gerade im Fokus einer Szene ist, kann es vorkommen, dass diese für wenige Sekunden durch stumme Flashbacks oder Flashforwards unterbrochen wird. Ob wir gerade eine Erinnerung oder eine böse Vorahnung – also die Vergangenheit oder die Zukunft – sehen, ist dabei nicht immer ganz klar. Thornton verleiht aber so seinen Charakteren eine neue Ebene, wenn er zum Beispiel zeigt, wie der Sergeant mit der Bardame, die er gerade so schroff behandelt, als Liebespaar im Bett liegt.

    Die mangelnde Fokussierung erleichtert den Zugang zu „Sweet Country“ nicht gerade. Weil Thornton so viele gleichberechtigte Figuren hat, taugt keine zur Identifikation. Und da er sich ausgiebig Zeit nimmt, schreitet seine Erzählung nur langsam voran. Doch es lohnt sich, sich darauf einzulassen. Dies belohnt der Regisseur mit poetischen Bildern der wunderschönen Landschaft, die im krassen Gegensatz zu den Menschen, die diese bevölkern, stehen. Sie bilden einen Kontrapunkt zu den teils schwer verdaulichen Ereignissen. Eine Vergewaltigung oder ein gespaltener Schädel haben als eruptive Momente inmitten des langsamen Erzähltempos gleich noch viel mehr Wirkung – zumal hier Thornton geschickt mit der Imagination des Zuschauers spielt. Während der Vergewaltigung ist zum Beispiel die Leinwand schwarz, der Zuschauer nimmt den Horror nur über die Tonspur wahr.

    „Sweet Country“ ist auch ein eindringliches, in die heutige Zeit passendes Statement über eine von Rassismus geprägte Gesellschaft. Doch es ist erfrischend, wie sehr jegliche Schwarz-Weiß-Malerei vermieden wird. Auch wenn Thornton und seine Autoren die zahlreichen Figuren trotz zwei Stunden Laufzeit nicht ganz ergründen können, deutet er immer wieder ihre Vielschichtigkeit an. Dabei wird er von seinen starken Darstellern unterstützt, die überwiegend ohne viele Dialoge, dafür vor allem mit Mimik und Gestik auskommen müssen.

    Während „Jurassic Park“-Star Sam Neill den meisten Zuschauern auch hierzulande bekannt ist, sticht besonders in der zweiten Hälfte der australische Charakterdarsteller Bryan Brown („Gorillas im Nebel“) heraus. Da seine Figur nach und nach die meisten Facetten offenbart, bekommt er zwar den größten Raum, um zu brillieren, hat aber auch die schwierigste Aufgabe, da der stoische Sergeant am wenigsten erklärt wird. Gerade in der finalen Gerichtsverhandlung wird er weitestgehend darauf reduziert, als Aufpasser auf einem Stuhl am Bildrand zu sitzen. Dennoch ist es eindrucksvoll, wie Brown es gelingt, dass seine Figur hier weit mehr als nur Staffage ist. Vielmehr können wir in seinem Gesicht lesen, wie er das Verfahren bewertet, wie seine persönliche Überzeugung und seine Loyalität zum Gesetz als widerstreitende Interessen in ihm arbeiten.

    Fazit: „Sweet Country“ ist ein starkes Western-Drama mit vielen Facetten, das vor allem vom Spiel seines umfangreichen Ensembles und seinen poetischen Landschaftsbildern lebt.

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