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    Girl
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Girl
    Von Matthias Manthe

    Gefangensein im eigenen Körper – dieses Gefühl kennen die meisten Jugendlichen. Wenn es aber um die Identitätsbildung im völlig fremden Körper geht, wird das Spannungsfeld von Schule, Familie und sexuellem Erwachen in der Pubertät zu einer unvorstellbaren Herausforderung. Lukas Dhont aus Gent schildert in seinem schlicht „Girl“ betitelten Regiedebüt die schwierige Metamorphose eines Transmädchens zur Transfrau, die zudem im Ballett groß herauskommen möchte. Neben der Goldenen Kamera als bestes Erstlingswerk wurde das niederländische Coming-Of-Age-Drama in Cannes auch mit dem „Queer Palm“-Preis in der Auswahl der LGBT*-Filme prämiert. Als stringent erzähltes Genderporträt kehrt Dhont den inneren Konflikt seiner Hauptfigur dank einer exzellenten Besetzung glaubwürdig und ohne Extravaganzen nach außen. Durch die zahlreichen Analogien, die zwischen Gender und Adoleszenz gemacht werden, taucht „Girl“ tief in die Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen ein, die im falschen Körper geboren werden.

    Lara (der im Tanz ausgebildete Victor Polster) ist 15 und hat gleich zwei große Träume: eine Karriere als Ballerina und eine Geschlechtsanpassung. Denn Lara steckt in einem Jungenkörper. Im äußeren Erscheinungsbild eindeutig weiblich gegendert, ist das schüchterne Mädchen mit einem Penis auf die Welt gekommen. Nun möchte die 15-Jährige endlich ihr biologisches an das soziale Geschlecht angleichen. Dafür nimmt Lara weibliche Hormone und wartet sehnsüchtig auf die Operation. Um bis dahin auch optisch dem weiblichen Bild zu entsprechen, bindet das Mädchen ihren Penis mit Bandagen ab, sticht sich selbst Ohrlöcher und hungert gegen ihren Körper an, der mit zunehmendem Wachstum immer männlicher und sehniger wird.

    Ihr modern eingestellter Vater Mathias (Arieh Worthalter) sowie ihr kleiner Bruder unterstützen sie verständnisvoll. Dennoch stößt Lara in Umkleidekabinen oder bei Intimitäten mit einem Nachbarsjungen wiederholt an die Grenzen der Geschlechtszugehörigkeit. Weil das Tanzen an einer renommierten Brüsseler Ballettschule zunehmend körperlichen Tribut fordert, rücken ersehnte Karriere und Operation plötzlich in weite Ferne. Der Teenager muss unter Schmerzen erkennen, dass sich die beiden Träume gegenseitig im Weg stehen. Darum trifft Lara am Neujahrsmorgen eine folgenschwere Entscheidung, um endgültig zur Frau zu werden...

    Er wolle etwas darüber sagen, „wie wir Geschlecht, Weiblichkeit und Männlichkeit wahrnehmen“, schickt Regisseur und Drehbuchautor Lukas Dhont voraus. „In erster Linie geht es jedoch um den inneren Kampf der jungen Protagonistin, die ihren eigenen Körper aufs Spiel setzt, um die Person zu werden, die sie sein möchte.“ Dementsprechend wird Laras Körper rigoros in den Fokus gerückt. Victor Polsters Physiognomie dominiert die Bilder in beinahe dokumentarischen Aufnahmen. Die Handkamera kreist um Laras mal lächelndes, mal in Agonie gefangenes Gesicht und fängt nüchtern ihre Bewegungen beim Ballett, die aufgrund des harten Trainings blutenden Füße und den Diskurs mit ihrem männlichen Spiegelbild ein. Laras nach innen gekehrtes Leiden verkörpert Jungdarsteller Polster dabei beeindruckend glaubwürdig. Dank der Hilfe von Vater, Bruder, Klassenkameraden und Ärzten muss Lara nur wenig gegen äußere Widerstände antreten. Ihr Konflikt als Girl ist in allererster Linie die Überwindung des eigenen Körpers, um ihre beiden Ziele – Ballettkarriere und Geschlechtsanpassung – irgendwie zu vereinen.

    Für die Charakterzeichnung verzichtet der Regisseur weitgehend auf Musik und stilistische Seilfahrten, wie man sie sonst häufig in Tanz-Exzessen wie Darren Aronofskys „Black Swan“ oder Gaspar Noés „Climax“ findet. Das elitäre Tanzakademie-Szenario erinnert eher an Damien Chazelles Musikfilm „Whiplash“. Dass Ghont fürs Laras Identitätssuche auf die etablierte (und eher weiblich konnotierte) Projektionsfläche Ballett zurückgreift, bringt dem Film zwar für den erzählerischen Hintergrund nicht viel Neues. Doch das nachvollziehbare Szenario einer ungewöhnlichen Reifewerdung trägt deutlich zur Empathie auf Zuschauerseite bei.

    Fazit: Not a girl, not yet a woman: Lukas Dhont gelingt mit „Girl“ ein einfühlsames Porträt eines außerordentlich starken Mädchens, das auf dem Weg zu ihrem wahren Ich auch vor der ultimativen Selbstkasteiung nicht zurückschreckt.

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