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    Der Boden unter den Füßen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Der Boden unter den Füßen

    Eine Unternehmensberaterin am Rande des Nervenzusammenbruchs

    Von Christoph Petersen

    Die wichtigste Eigenschaft eines Unternehmensberaters hat wenig mit seinem wirtschaftlichen, strategischen oder mathematischen Wissen zu tun. An erster Stelle steht vielmehr die makellose Selbstinszenierung: Wer in fremden Betrieben Umstrukturierungen oder Massenentlassungen empfiehlt, dem muss man in jeder Sekunde glauben, dass er zu 100 Prozent hinter dem steht, was er da erzählt. Jede noch so kleine falsche Geste könnte diesen Eindruck, dass die von außen hinzugeholten Experten es schon besser wissen werden, sofort zerstören. In ihrem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Der Boden unter den Füßen“ seziert die österreichische Autorin und Regisseurin Marie Kreutzer („Was hat uns bloß so ruiniert“) eine aufstrebende Unternehmensberaterin, die sich nach der Einweisung ihrer Schwester in eine Psychiatrie auch ihrer eigenen Perfektion nicht mehr sicher sein kann. In seinen stärksten Momenten ist das atmosphärisch und verworren wie ein Thriller. Aber dazwischen gibt es auch eine Menge Leerlauf, weil es vielen der zurückgenommenen Alltagsbeschreibungen einfach an der nötigen Spezifität fehlt.

    Lola (Valerie Pachner) macht mit Ende 20 schon steil Karriere als Unternehmensberaterin. Jetzt noch schnell einen kräftezehrenden Job im kühl-trostlosen Rostock hinter sich bringen und dann mit ihrer Chefin Elise (Mavie Hörbiger), mit der sie auch ein Verhältnis hat, ab zu einem mehrjährigen Prestigeprojekt nach Sydney. Doch dann erhält Lola den Anruf, dass ihre Schwester Conny (Pia Hierzegger) nach einem Selbstmordversuch in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Auch das nimmt Lola zunächst mit kühler Professionalität zur Kenntnis, schließlich ist es längst nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Dann nagen die Vorkommnisse aber doch an ihr. Immer wieder erhält Lola Hilferufe von ihrer älteren Schwester. Die darf aber in der geschlossenen Abteilung eigentlich gar kein Mobiltelefon besitzen. Was steckt also dahinter? Eine Verschwörung? Oder zeigt nun auch Lola erste Anzeichen einer paranoiden Schizophrenie? Lola vermag sich ihrer selbst nicht mehr sicher sein – dabei ist absolute Selbstkontrolle doch das höchste Gut in ihrem Metier...

    Ein Abteilungsleiter sieht nicht ein, warum er sich von jemandem, der nur halb so alt ist, sagen lassen soll, dass seine über Jahrzehnte angewendeten Vertriebsmethoden heutzutage nicht mehr zeitgemäß sind. Nach dem unerfreulichen Gespräch bemerkt Lola gegenüber ihrer Chefin: „Ich hasse es, wenn sie zu transpirieren anfangen!“ Selbst ihren Schweißfluss scheinen Unternehmensberater also unter Kontrolle zu haben. Bei der Berufswahl ihrer Protagonistin hat Marie Kreutzer damit eine naheliegende Wahl getroffen: Selbst die kleinsten Abweichungen von der Perfektion, vom einfachen Zahlendreher in einer Kalkulation bis hin zur unachtsamen Geste in einem Geschäftsmeeting, sind hier schlicht keine Option, wenn man verhindern will, dass die ähnlich auf die eigene Karriere fokussierten Kollegen nicht wie die Kannibalen über einen herfallen. Und da Kreutzer nicht auf die großen Ausbrüche setzt, sondern auf die kleinen Verschiebungen, macht es Sinn, davon in einem Umfeld zu erzählen, wo eh jede Kleinigkeit wie unter einem Mikroskop seziert wird.

    Sobald sich die Anzeichen verdichten, dass speziell mit den angeblichen Telefonanrufen der Schwester tatsächlich irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann, malt man sich als Zuschauer direkt eine Menge Richtungen aus, in die sich der Film von hier aus als Thriller weiterentwickeln könnte – vor allem ein finaler Twist à la „Fight Club“ scheint naheliegend. Aber über ein paar gelungen atmosphärische Einzelszenen hinaus verfolgt Kreutzer die Genreelemente ihres Films nicht weiter. Stattdessen setzt sie ganz auf das Erstellen eines präzisen, betont unmelodramatischen Psychogramms. Das ist aller Ehren wert, trägt aber gleich aus zwei Gründen nicht über die volle Spielzeit (von denen ausdrücklich keiner etwas mit der fantastischen Performance von Valerie Pachner zu tun hat).

    Zum einen ist die zentrale Metapher von der jeden Abend im Fitnesscenter strampelnden Perfektionistin, die von der eigenen Brüchigkeit aus der Bahn geworfen wird, schnell durchschaut – und dann kommt kaum noch etwas Neues. Lediglich die angedeuteten Genrepfade halten die Spannung zumindest ein wenig hoch, selbst wenn sich keiner von ihnen je materialisiert. Zum anderen mangelt es beim Eintauchen in den Unternehmensberaterkosmos an spezifischen, unverwechselbaren Momenten, wie es sie etwa in dem nicht nur herausragenden, sondern auch herausragend recherchierten „Toni Erdmann“ noch so zahlreich gab. In „Der Boden unter den Füßen“ sehen wir hingegen vornehmlich dieselben Meetings, Nachtschichten, dummen Anmachen und intriganten Spielchen, die man immer sieht, wenn es um dieses Berufsfeld geht. Nur eine Szene, in der Lolas Kollege Sebastian (Marc Benjamin) einfach mal seinen Schwanz vorzeigt, um ihr zu erklären, warum er einen bestimmten Job bekommt und sie nicht, fühlt sich in ihrer unverfrorenen Direktheit tatsächlich frisch an.

    Fazit: Ein konzentriertes, zurückgenommenes, streckenweise sehr atmosphärisches Psychogramm einer Unternehmensberaterin am Rande des Nervenzusammenbruchs, das letztendlich für seine Laufzeit von 108 Minuten aber einfach zu wenig an neuen Impressionen liefert.

    Wir haben „Der Boden unter den Füßen“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo der Film im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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