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    Everybody's Talking About Jamie
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Everybody's Talking About Jamie

    Helden in High Heels

    Von Jochen Werner

    Dieser Film beruht auf einer wahren Geschichte. Nur Gesang und Tanz haben wir hinzugefügt.“ Mit dieser Texttafel ganz am Anfang bereitet uns Regisseur Jonathan Butterell eigentlich ganz gut auf den atmosphärischen Spagat vor, der uns in den folgenden zwei Stunden von „Everybody's Talking About Jamie“ erwartet. Denn ihren queeren Musical-Glamour entfaltet die Adaption des gleichnamigen preisgekrönten Bühnenmusicals aus dem Jahr 2017 vor einem Hintergrund, der zunächst einmal denkbar unglamourös daherkommt und eher an eine der urbritischen Working-Class-Dramödien von Mike Leigh („Happy-Go-Lucky“) erinnert. Statt wie ursprünglich geplant auf der großen Leinwand tut die Disney-Produktion dies nun allerdings direkt im Streaming-Angebot von Amazon Prime Video.

    Jamie New (Max Harwood) wächst als schwuler Teenager bei seiner alleinerziehenden Mutter Margaret (Sarah Lancashire) in einem Sheffielder Arbeiterbezirk auf. Im Gegensatz zu den meisten Protagonisten schwuler Coming-of-Age-Geschichten wie etwa der bezaubernden RomCom „Love, Simon“ hat er sein Coming Out aber bereits hinter sich. Sein erstes jedenfalls. Denn „Everybody's Talking About Jamie“ erzählt quasi von seinem zweiten Coming Out – „the boy so nice he came out twice“, heißt es da an einer Stelle. Jamie will nämlich eine Drag Queen werden – und am liebsten auch in Drag zum Schulabschlussball gehen…

    Seine Glitzer-High-Heels hat Jamie zum 16. Geburtstag von seiner Mutter geschenkt bekommen.

    Bei diesem Vorhaben unterstützt ihn ein liebevolles Umfeld: Seine Mutter schenkt ihm seine ersten Glitzer-High-Heels zum 16. Geburtstag, ihre beste Freundin Ray (Shobna Gulati) nimmt eine Art Vaterrolle ein und Jamies beste Freundin, die Hijab-tragende Klassenbeste Pritti (Lauren Patel) schleppt ihn direkt in den einzigen Drag-Shop in Sheffield. Dort trifft er auf den exaltierten Inhaber Hugo (Richard E. Grant), der einst selbst als legendäre Drag Queen Loco Chanelle auftrat.

    In der allerschönsten und anrührendsten Sequenz des an schönen und rührenden Sequenzen nicht eben armen Films gibt Hugo Jamie mit dem Song „That Was Me“ eine Art Crashkurs in queerer Geschichte, von der großen Befreiung und den politischen Kämpfen der Prä-AIDS-Zeit über das große Sterben der 80er- und 90er-Jahre bis in eine Gegenwart hinein, in der junge Menschen wie Jamie auch deshalb offen leben können, weil frühere Generationen ihre Rechte erkämpft haben.

    Sarah Lancashire & Richard E. Grant stehlen die Show

    Auf Jamies Weg zur eigenen Neuerfindung als „Junge, der ab und zu ein Mädchen sein möchte“ nimmt Hugo ihn unter seine Fittiche. Aber je offener Jamie als sein neues effeminiertes Alter Ego auftritt, desto größer wird dann zunächst doch der Widerstand von Mitschülern, Lehrerinnen und nicht zuletzt seinem abwesenden Vater, einem fußballguckenden Testosteronprotz, der längst den Kontakt eingestellt hat und sich nun endgültig von seinem Sohn lossagt. Es sind recht generische Konflikte, die aus vielen vergleichbaren Filmen vertraut sind, aber ohne die wohl kaum eine queere Biografie auskommt. Manchmal werden sie hier auf etwas arg didaktische Weise ausbuchstabiert, wie auch die dagegen gestellten Solidaritätsgesten keinen Zweifel daran lassen, dass sie von wirklich allen Zuschauer*innen eindeutig verstanden werden wollen. Aber das schadet dem Film - durchaus überraschend – kaum bis gar nicht.

    Das liegt jedenfalls zum Teil an der tollen Besetzung: Max Harwood erweist sich in seinem Kinodebüt als echte Entdeckung und liefert eine ungemein charismatische, liebenswerte und verschrobene Performance in der Titelrolle ab. Sarah Lancashire ist als bedingungslos liebende Mutter Margaret sogar noch besser und im Grunde das Herz des Films. Ein kleiner Coup ist zudem die Besetzung von Richard E. Grant, der 1987 mit der legendären britischen Komödie „Withnail & I“ zum Kultschauspieler wurde und in den folgenden Jahrzehnten unzählige kleine und mittlere Rollen in britischen und amerikanischen Filmen gespielt hat. Wie er hier, zwischen Euphorie und Trauer und Kampfgeist, auf sein eigenes Leben zurückblickt und schließlich die eigene, verlöschende Flamme an den jungen Jamie weiterreicht, das ist schon sehr, sehr berührend.

    Wieder einmal grandios: Richard E. Grant als Hugo alias Drag Queen Loco Chanelle.

    Es scheint überhaupt eine gute Zeit zu sein für woke Musicals, hat doch kürzlich bereits „In The Heights“ bewiesen, dass eine gewisse Didaktik und eine immer etwas überbetont wirkende Diversität und politische Korrektheit einem Kinomusical keineswegs den Swing austreiben müssen. Im Hinblick auf die Kernkompetenz – die Gesangs- und Tanzsequenzen – ist „In The Heights“ im direkten Vergleich „Everybody's Talking About Jamie“ allerdings noch einen Schritt voraus.

    Wo in „In The Heights“ die tiefe Verwurzelung von Regisseur Jon M. Chu in der Musicalgeschichte durch Anklänge an Busby Berkeley oder Fred Astaire stets spürbar war, greift Regiedebütant Jonathan Butterell, der das Stück bereits auf der Bühne inszenierte, hier für die Choreografien eher auf die Ästhetik kontemporärer Musikvideos (oder eben Bühnenshows) zurück. Was ja nicht per se schlechter ist, sondern einfach ein anderer Ansatz, der auch zur Thematik passt, aber doch manchmal etwas Verspieltheit und Kreativität vermissen lässt.

    Grandiose Songs!

    Großartig sind dafür aber eigentlich alle Songs – und wenn ein Schauspieler wie Richard E. Grant in Sachen Gesangsperformance mal nicht mit den ausgebildeten Sänger*innen mithalten kann, springt mit dem ehemaligen Frankie-Goes-To-Hollywood-Sänger Holly Johnson auch noch eine echte Legende der queeren Popmusik für ihn ein! Wer nicht mindestens mit drei Ohrwürmern nach Hause geht, der muss hier wirklich irgendetwas grundfalsch gemacht haben.

    Fazit: Hier und da wird der Film vielleicht mal einen Tick zu didaktisch. Aber das fällt am Ende gar nicht ins Gewicht, einfach weil „Everybody's Talking About Jamie“ ein so berührender, lustiger und einfach mitreißender Film geworden ist. Das Kinomusical ist – endlich wieder – quicklebendig, selbst wenn dieser gelungene Beitrag am Ende dann doch direkt bei einem Streaming-Service gelandet ist!

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