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    Another World
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Another World

    Der globale Kapitalismus ist zum Kotzen – und zwar für (fast) alle!

    Von Christoph Petersen

    Stéphane Brizé hat unten angefangen, um zu zeigen, welche Opfer der moderne Kapitalismus fordert: In „Der Wert des Menschen“ (2015) spielt Vincent Lindon einen jenseits der 50 arbeitslos gewordenen Maschinisten, der an jeder Ecke aufs Neue erkennen muss, dass er in dieser Gesellschaft offensichtlich nichts mehr wert ist. In „Streik“ (2018) spielt erneut Vincent Lindon einen Gewerkschafter, dessen Leben sich zu einem einzigen (Arbeits-)Kampf entwickelt und der sich schließlich sogar mit Benzin übergießt und anzündet, um die Schließung seines Werks zu verhindern.

    Nun folgt mit „Another World“ der Abschluss dieser antikapitalistischen Trilogie – und diesmal richtet Brizé den Blick weiter nach oben in der Nahrungskette: Wenn – natürlich wieder – Vincent Lindon einen hochbezahlten Fabrikboss verkörpert, der an dem Widerspruch von Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeiter*innen vor Ort und der Konzernführung irgendwo am anderen Ende des Zoom-Calls zerbricht, dann zeigt das vor allem, dass es in diesem System praktisch keine Gewinner und so gut wie nur Verlierer gibt. Zumindest solange man im Ansatz so etwas wie ein Gewissen besitzt.

    Während Philipp (Vincent Landon) nach menschlichen Lösungen sucht, geht es seinen Bossen vor allem darum, den möglichst harten Hund zu markieren ...

    Der von allen als fairer und vertrauensvoller Partner respektierte Philippe Lemesle (Vincent Lindon) leitet eine Fabrik in Frankreich, die Teil eines globalen Konzerns ist. Während er sich vor Ort um die Sicherheit und das Wohlbefinden seiner Angestellten kümmert, fordert die Führung in den USA, trotz starker Unternehmenszahlen an allen weltweiten Standorten mindestens zehn Prozent der Belegschaft abzubauen. So soll die Profitabilität auch für die Zukunft gesichert werden.

    Während Philippe an einem eigentlich unmöglichen Plan arbeitet, der die eh schon hoffnungslos überarbeiteten Mitarbeiter*innen in seiner Fabrik nicht mehr als unbedingt nötig zusätzlich belastet, muss er sich nebenbei auch noch um die Scheidung von seiner Frau Anne (Sandrine Kiberlain) kümmern, die nach nur einer Handvoll freier Wochenenden in drei Jahren endgültig die Reißleine gezogen hat…

    Je unmenschlicher, desto besser

    Als Gewerkschafter in „Streik“ verzweifelt Vincent Lindon auch deshalb an seinen Verhandlungspartner*innen, weil diese anscheinend überhaupt nicht an einer Lösung interessiert sind – selbst als von den Beschäftigten ein möglicher Käufer für das Werk gefunden wird, lehnen die Verantwortlichen ab, weil es nicht in die globale Konzernstrategie passt. In „Another World“ spielt Lindon nun selbst einen solchen vermeintlichen Entscheider – und zerschellt mit seinen positiven Vorhaben ebenfalls an einem System, in dem die ethische Verantwortung so lange die Leiter hinaufgeschoben wird, bis sie bei einem entmenschlichten Konzept wie „der Wall Street“ angekommen ist:

    Gemeinsam mit einem weiteren Fabrikleiter entwickelt Philipp etwa einen verdammt gut durchdachten Plan, wie man die geforderten Entlassungen verhindern und trotzdem dieselbe angestrebte Profitabilitätssteigerung erreichen könnte. Aber der leider etwas arg karikaturesk gezeichnete Konzernboss M. Cooper (Jerry Hickey) lehnt zynisch ab. Er selbst sei schließlich auch nur seinen „Bossen“ an den Börsen verpflichtet – und dort gehe es gar nicht wirklich um Profitabilität, sondern nur darum zu zeigen, was für knallharte Entscheidungen man zu treffen bereit sei.

    Das erste Mal so richtig ins Stocken gerät Philippe, als seine Frau (Sandrine Kiberlain) die gemeinsame Ehe als "Hölle" bezeichnet.

    Solche Spiegelungen finden sich nicht nur filmübergreifend in der Trilogie, sondern auch in „Another World“ selbst: Bei einem Einigungstermin mit seiner Frau lenkt Philipp die Diskussion – allzu menschlich – immer wieder auf eine emotionale und moralische Ebene, während die Anwält*innen all das Abblocken und sofort auf eine kühl-sachliche Ebene zurückkehren. Später wiederum ist es Philipp selbst, der in einem Gespräch mit den Arbeitnehmervertreter*innen alle noch so verständlichen „gefühligen“ Argumente sofort abblockt. Er sieht es zwar größtenteils genauso, muss aber eben die Konzernmeinung vertreten. Mit „Another World“ stellt Brizé also endgültig klar: Schuld ist für ihn nicht der Einzelne, egal wo in der Hierarchie er steht, sondern ein System, das unmenschliche Arschlochhaftigkeit belohnt statt bestraft.

    Ein wenig didaktisch und allzu sauber auf die gewünschte Aussage hingebogen ist die Aneinanderreihung von Businessmeetings natürlich schon. Dass „Another World“ trotzdem kein bisschen trocken, sondern im Gegenteil extrem intensiv geraten ist, liegt einmal mehr vor allem an Vincent Lindon, der im Goldene-Palme-Gewinner „Titane“ gerade erst in einer ganz anderen muskelbepackten Rolle begeistert hat. Nun kämpft und leidet er mit einer solch ansteckenden Aufrichtigkeit, dass man sich kaum dagegen wehren kann, in seine moralischen Dilemmata mit hineingezogen zu werden.

    Ein gewaltiges "Fuck You!" als kleiner Hoffnungsschimmer

    Die nervös suchende Kamera von Eric Dumont („My Son“) verleiht dem Film dabei einen dokumentarischen und zugleich hochgradig artifiziellen Gestus, der dafür sorgt, dass einem das persönliche Schicksal konsequent an die Nieren geht, man aber auch das große Ganze nicht aus den Augen verliert. Wobei Brizé seine Trilogie nach all den gnadenlosen Niederschlägen auf einer unerwartet optimistischen Note enden lässt.

    Der finale Fuck-You-Brief von Philippe ist allerdings so perfekt auf den Punkt geschrieben, dass es fast schon den Anschein hat, als würde sich Brizé nach seiner auf drei Filme verteilten und damit insgesamt rund fünf Stunden langen knallhart-authentischen Systemabrechnung zumindest in den letzten paar Minuten die Freiheit nehmen, ein kleines Märchen von einer besseren Welt zu erzählen.

    Fazit: Mit „Der Wert des Menschen“, „Streik“ und nun „Another World“ hat Stéphane Brizé eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht, dass er den globalen (Shareholder-)Kapitalismus zum Kotzen findet – und als Zuschauer*in fällt es einem nach dieser hart an die Nieren gehenden Trilogie schwer, ihm da noch großartig zu widersprechen.

    Wir haben „Another World“ auf dem Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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