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    Die Zeit, die wir teilen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Zeit, die wir teilen

    Schwebende Erinnerungen

    Von Jochen Werner

    About Joan“ beginnt mit einer nächtlichen Autofahrt. Joan Verra (Isabelle Huppert), eine erfolgreiche Verlegerin Anfang 60, fährt durch den Regen und das Nachtschwarz – und wendet plötzlich den Blick von der Straße und in die Kamera, um die vierte Wand zu durchbrechen und sich uns Zuschauer*innen persönlich vorzustellen. Ein durchaus klassischer filmischer Kunstgriff, der sich so in den folgenden 100 Minuten nicht wiederholen wird – der aber dennoch alles weitere ganz entscheidend prägt.

    Denn der zweite abendfüllende Film des französischen Theater- und Kinoregisseurs Laurent Larivière ist komplett aus einer subjektiven Perspektive erzählt. Er hangelt sich, ein wenig sprunghaft, im Kern aber doch halbwegs chronologisch, als Bewusstseinsstrom durch ein langes Leben – und die stark persönliche Färbung all der Erinnerungen, die er hintereinander aufreiht, ist von Anfang an spürbar. Zunächst springt Joans Gedächtnis weit in die Vergangenheit: Als junges Au-Pair-Mädchen in England trifft sie den charmanten Taschendieb Doug (Éanna Hardwicke) – und eine kurze, leidenschaftliche Affäre lang gehen die beiden zusammen auf Raubzug, wobei sich „About Joan“ in eine durchaus Nouvelle-vague-artige Screwball-Romanze zu verwandeln scheint.

    „About Joan“ schwebt regelrecht durch das Leben und die Erinnerungen seiner Titelheldin.

    Aber natürlich kommt, was kommen muss – die beiden fliegen auf und ihre Wege führen sie schließlich wieder auseinander. Doug weiß jedoch nicht, dass Joan ein Kind von ihm bekommt, das sie fortan allein großzieht – jedenfalls mehr oder weniger. In ihrer Mutterrolle geht das viel zu junge, viel zu irrlichternde Mädchen nämlich zunächst wenig auf – und auch Joan selbst leidet unter einer abwesenden Mutterfigur, nachdem ihre eigene Mutter Mann und Tochter zurücklässt, um mit einem Karatelehrer nach Japan durchzubrennen.

    All diese durchaus nicht hundertprozentig zuverlässigen Rückblenden unterbricht Larivière immer wieder durch Flash-Forwards in die Gegenwart, in der Joan in einer Beziehung mit dem deutlich jüngeren Schriftsteller Tim Ardenne zusammenlebt, den Lars Eidinger zunächst als ziemlich durchgeknallte (Selbst-)Parodie eines prätentiös-selbstzerstörerischen Großkünstlers anlegt (sein zentrales Meisterwerk heißt „Stahl und Schweiß“), um dann später doch noch überraschend zurückgenommene Töne zu finden. Irgendwann kommt dann auch Joans inzwischen erwachsener, in Kanada lebender Sohn Nathan (Swann Arlaud) zu Besuch. Diesem begegnen wir über die verschiedenen Zeitebenen der Erzählung hinweg in verschiedenen Lebensaltern – und nach und nach entwickelt sich daraus das Bild einer komplizierten, unperfekten, aber keineswegs lieblosen Mutter-Sohn-Beziehung, die zunächst schleichend und schließlich etwas arg überdeutlich ins Zentrum des Films rückt.

    Für den Augenblick

    Dabei ist es ein kleines Wunder, wie frei und offen und mitunter federleicht Larivière die verhandelten Themen um Abschied, Verlust, Trauer, Unzulänglichkeit über weite Strecken (und leider nur fast ganz bis zum Ende) hält. Mit geradezu unverschämter Mühelosigkeit taumelt „About Joan“ von einer Erinnerung zur nächsten, durch die Zeiten, und bleibt dabei, statt mühsam etwas vermeintlich Größeres zu errichten, in erster Linie dem Gefühl des Augenblicks verpflichtet. Das schreibt sich auch tief in seine Form ein. Kadrage, Farb- und Lichtdramaturgie ändern sich fortwährend und kreieren unablässlich neue, stets ganz der subjektiven Färbung der jeweils erinnerten Episode folgende Stimmungen, die vom nächsten Gedanken, vom nächsten Gefühl jederzeit wieder verweht werden können.

    In den allerbesten Momenten durchweht dieses Flanieren durch eine gebrochene Biografie ein Hauch von Alain Resnais, auch wenn es am Ende dann doch nicht derart zu Ende gedacht ist wie die Werke des großen französischen Meisterregisseurs. Dafür läuft „About Joan“ allerdings auch wiederum nicht Gefahr, als allzu verkopft erlebt zu werden und gönnt es sich, in einem Zustand prononcierter Sinnlichkeit zu verweilen. Larivières Inszenierung gelingt das Kunststück, gleichermaßen leichtfüßig und schwelgerisch zu sein, sie strebt stets eine hohe formale wie emotionale Intensität an und gleitet erst ganz zum Schluss in ein Auserzählen hinein, das im Vergleich mit den ihm vorhergehenden wechselnden Schwebezuständen etwas arg prosaisch anmutet. Soviel Bodenhaftung zum Ende hin hätte „About Joan“ eigentlich gar nicht gebraucht. Und doch überwiegen am Ende die positiven Eindrücke diese kleine Ernüchterung zum Ende bei weitem.

    Fazit: Ein zauberhafter, so schwereloser wie sinnlicher Flaneursfilm durch die Zeiten und durch ein Leben, der mit leichter Hand schwere Substanzen um Verlust, Abschied und Trauer behandelt. Erst ganz zum Ende hin verliert die Erzählhaltung etwas von dieser Leichtigkeit und wendet sich einem etwas zu prosaischen Ausbuchstabieren zu. Bis dahin und im Gesamteindruck ist „About Joan“ dennoch ein ganz wunderbarer Film.

    Wir haben „About Joan“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.

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