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    Human Flowers of Flesh
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Human Flowers of Flesh

    Das Meer, die Fremdenlegion und der ganze Rest

    Von Michael S. Bendix

    Das Meer ist eines der am meisten abgenutzten Motive nicht nur, aber vor allem des deutschen Kinos: Gerade in Roadmovies zieht es die Protagonist*innen – oft als letzte Reise – regelmäßig zur See hin, die dann als Metapher und Sehnsuchtsort herhalten muss. Auch in den Filmen der Hamburger Regisseurin Helena Wittmann spielt das Meer eine übergeordnete Rolle, vielleicht sogar die wichtigste: In der Mitte ihres Langfilm-Debüts „Drift“ (2017) lässt sie etwa die Spuren von Narration, die sie in Form der Beziehung zweier Freundinnen ausgelegt hat, plötzlich vollends fallen – und lässt den gesamten Film im Meer aufgehen. An den altbekannten Bedeutungsebenen ist sie dabei aber nicht interessiert: Aus verschiedenen Perspektiven spürt die Kamera dem Rauschen der Wellen nach, beobachtet ihre Bewegungen und die sich immer wieder verändernden Formen und Muster, bis im Idealfall ein geradezu meditativer Zustand entsteht, von dem man sich wünscht, er würde niemals enden.

    Auch Wittmanns zweiter Film „Human Flowers Of Flesh“ spielt den Großteil seiner Laufzeit auf offener See, und auch diesmal verwehrt sich die Filmemacherin gegen geradliniges Erzählen und klare Interpretationsanleitungen. Im Zentrum, wenn man das überhaupt so sagen kann, steht die Segelyacht-Besitzerin Ida, gespielt von der Giorgos-Lanthimos-Komplizin Angeliki Papoulia („Dogtooth“, „The Lobster“). Gemeinsam mit ihrer fünfköpfigen Besatzung, deren Mitglieder aus Algerien, Deutschland, Portugal und Brasilien stammen, reist sie von Marseille über Korsika bis ins algerische Sidi bel Abbès. Früh im Film sagt einer der Crew-Angehörigen, dass niemand viel wisse über die Frau, auf deren Schiff sie anheuern würden. Das wird so bleiben, für ihn wie für uns.

    Es gibt zwar ein klares geographisches Ziel für die Reise – aber warum genau die Crew unterwegs ist, erfahren weder die Besatzungsmitglieder noch das Publikum.

    Ebenso wenig erfahren wir, auf welcher Mission sich das Schiff befindet. Nur selten sehen wir die Besatzung bei der Ausführung konkreter Arbeiten, stattdessen schwimmen sie, sammeln Naturgegenstände, pressen Blätter. Wenn sie nicht schweigen, lesen sie einander Auszüge aus Romanen von Friedrich Glauser oder Marguerite Duras vor, die nicht von ungefähr von der französischen Fremdenlegion handeln – jener 1981 gegründeten Einheit von Soldaten aus dem benachbarten Ausland, die eine zentrale Rolle bei der Kolonialmacht Frankreichs in Algerien spielte und auch in Vietnam oder dem Indochinakrieg zum Einsatz kam. Ida entwickelt eine immer stärker werdende Faszination für diese hermetische Männerwelt, der schon Claire Denis in „Der Fremdenlegionär“ nachgespürt hat …

    … wobei Helena Wittmann das Meisterwerk von 1999 nun in selten gesehener Art und Weise fortschreibt. Wenn Denis Lavant in einer special appearance in „Human Flowers Of Flesh“ auftaucht, spielt er niemand Geringeren als den gefallenen Ausbilder Galoup, also sein Figur aus „Der Fremdenlegionär“. Dieser späte Auftritt führt allerdings nicht zu einer rückwirkenden Erklärung von Wittmanns Film, sondern gibt den Zuschauer*innen nur noch weitere Rätsel auf: Muss das Ende von „Der Fremdenlegionär“ neu gedacht werden? Oder ist Galoups Präsenz als Manifestation von Idas – und wohl auch Wittmanns – Beschäftigung mit dem Mythos der Fremdenlegion gar nicht so buchstäblich zu nehmen, wie es zunächst vielleicht wirkt?

    Unbedingt hinschauen

    „Human Flowers Of Flesh“ ist die Art Film, über die hinterher gern geschrieben wird, so etwas gehöre weniger ins Kino als auf eine Kunstausstellung. Das sagt allerdings weniger über den Film aus als darüber, wie sich im Laufe seiner über 120-jährigen Geschichte eine ganz klare Idee davon herausgebildet hat, was und wie das Kino zu sein hat. Dabei ist Film als Erzählmedium nur eine von schier unendlichen Möglichkeiten! Wenn es bewegte Bilder sind, haben sie im Kino ihren Platz – und bei einem Film wie „Human Flowers Of Flesh“, der sich derart radikal aus seinen Bildern heraus entwickelt, gilt das umso mehr. Helena Wittmann verlangt nicht wenig von ihrem Publikum. Aber sie gibt denen, die sich darauf einlassen, umso mehr zurück.

    Zum einen fordert ihr zweiter Film – fast mehr noch als „Drift“ – dazu auf, hinzuschauen. Der sich ständig wandelnden Formation der Meeresoberfläche nicht unähnlich, bauen die Szenen nicht linear aufeinander auf. Vielmehr bestehen sie aus mal langen, mal kürzeren Fragmenten, die den Film immer wieder neu zusammensetzen und ihn mehrmals seine Gestalt ändern lassen. Hinter jedem Bild kann theoretisch jedes andere stehen – nicht im Sinne einer Beliebigkeit, sondern einer inszenatorischen Offenheit, die uns schon mal unvermittelt auf den Meeresgrund führt, um ein von Algen bewachsenes Flugzeugwrack zu inspizieren. Eine andere Sequenz zeigt faszinierende Aufnahmen von im Wasser lebenden Mikroorganismen, und allein ihr Treiben könnte einen Kurzfilm tragen. Die Bildausschnitte, die Wittmann wählt, sind wie die Erzählung fragmentiert: Es gibt kaum Totalen und nur zu Anfang eine Panoramaaufnahme. Direkt das erste Bild ist für Wittmanns Ansatz exemplarisch: Während der Vorspann läuft, blicken wir auf eine Felsformation, die das Bild komplett ausfüllt – in ein Größenverhältnis wird sie erst gesetzt, als irgendwann menschliche Beine ins Bild treten.

    Mit Angeliki Papoulia konnte Helena Wittmann einen Star des europäischen Arthouse-Kinos für ihren zweiten Film gewinnen.

    Das menschliche Dasein und Schaffen in ambivalenter Wechselwirkung mit der Natur ist eines der Kernmotive von „Human Flowers Of Flesh“, der schon in seinem Titel scheinbar paradoxe Begriffe zu einer Einheit denkt. Ob Wittmann dabei Menschen, Gegenstände oder Natur zeigt, macht für sie erst mal keinen Unterschied – allem und allen begegnet die von ihr selbst geführte Kamera mit derselben Geduld und demselben Interesse. Das macht „Human Flowers Of Flesh“ zu tatsächlich entgrenztem Kino, was auch zu den politischen Konnotationen des Films passt:

    Natürlich spiegelt sich in der multiethnischen Bordgemeinschaft die Zusammensetzung der Fremdenlegion, und Wittmann stellt so Verbindungslinien zwischen kolonialer Vergangenheit und einem Heute her, in dem Flüchtende im Mittelmeer ertrinken oder gewaltsam ans Festland zurückgedrängt werden. Nicht zuletzt sind in „Human Flowers Of Flesh“ durch den Rückgriff auf „Der Fremdenlegionär“ und Idas Position als Kapitänin auf traditionell männlich geprägtem Terrain auch Genderthemen in „Human Flowers Of Flesh“ angelegt, aber nichts davon formuliert Wittmann jemals aus. Stattdessen lässt sie uns auf einem Meer aus Verweisen, Assoziationen, Eindrücken und Möglichkeiten driften – und das ist nicht annähernd so trocken-theoretisch, wie es klingt, sondern ein teils atemberaubendes Erlebnis.

    Fazit: Nach „Drift“ ist auch Helena Wittmanns zweiter Langfilm maritimes Experimentalkino, das nie gesehene Bilder findet, viele Reflexionsräume öffnet – und so nicht nur als Quasi-Fortführung eines der großen Meisterwerke des jüngeren französischen Kinos überrascht.

    Wir haben „Human Flowers Of Flesh“ beim Filmfest Hamburg 2022 gesehen.

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